ALLEMAGNE

Jürgen Zillikens

Vortrag zum Thema "Sektenzugehörigkeit und deren Auswirkungen auf das Recht der elterlichen Sorge" anlässlich der Jahrestagung der FECRIS in Barcelona am 11 und 12.05.2002

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

als Vizepräsident von "Kids e.V. Kinder in destruktiven Sekten" darf ich mich zunächst recht herzlich für die Einladung zu der Jahresversammlung bzw. zu dem Kolloquium bedanken,

Ich bin Rechtsanwalt und habe eine Praxis in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Anlässlich eines Sorgerechtsfalles, in welchem es um die Sekte der Zeugen Jehovas ging, wurde ich erstmals von dem Vater, den ich in dem zu vertreten hatte, aufmerksam gemacht auf den Verein "Kids e.V. Kinder in destruktiven Sekten", Dieser Verein wurde im Jahre 1995 in Leverkusen gegründet. Die erste Vorsitzende des Vereins, Frau Jutta Birlenberg, hatte im Jahre 1991 ihre Tochter, ihren Schwiegersohn und ihre drei Enkelkinder an die Zeugen Jehovas "verloren"' Sie beschäftigte sich seitdem intensiv mit dieser Sekte, aber auch mit anderen Sekten und den Auswirkungen der Sektenzugehörigkeit auf die Kinder, So gründete sie schließlich "Kids e. V. ", einen Verein, welcher Unterstützung bei Sorgerechtsfällen anbietet. Schwerpunkte der Arbeit des Vereins sind ferner die Betreuung Betroffener, Öffentlichkeitsarbeit und Einflussnahme auf politischer Ebene.

Im Zuge des bereits erwähnten Mandats bin ich dann im Jahre 1996 Mitglied bei "Kids e.V. geworden, Da man Juristen immer gut "gebrauchen" kann wurde ich im Februar 1997 als Vizepräsident in den Vorstand gewählt und übe dieses Amt seitdem aus.

Ich sehe es als meine Aufgabe an neben der Beratung eigener Mandanten in Sorgerechtsfällen mit Sektenzugehörigkeitsproblematik auch mit Anwaltskollegen in Deutschland zu kooperieren und diese mit ergänzenden Informationen zum Thema "Sektenzugehörigkeit und Auswirkungen auf das Recht der elterlichen Sorge" zu versorgen.

Soweit die kurze Vorstellung meiner Person und des Vereins "Kids e.V.".

Als Anknüpfung zum Thema dieser Jahrestagung hätte ich als Überschrift für meinen Vortrag auch auswählen können: "Spielt der Gedanke der Prävention in Sorgerechtsfällen bei Sektenzugehörigkeit eine Rolle?" Ich will einmal etwas ketzerisch die vorherrschende Linie in der deutschen Rechtsprechung wie folgt schildern:

"Das Kind muss erst in den Brunnen fallen bevor der Familienrichter handelt."

Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass nach der deutschen Rechtssprechung und vermutlich auch der Rechtsprechung in anderen europäischen Ländern allein die Zugehörigkeit eines Elternteiles zu einer Sekte noch nicht ausreicht um in den Augen des Familienrichters das Kind dem nicht in der Sekte befindlichen Elternteil zuzusprechen. Vielmehr müssen leider allzu häufig erst negative Auswirkungen bei einem Kind infolge der Sektenzugehörigkeit des betreuenden Elternteiles erkennbar und sichtbar werden bevor der Richter das Kind dem nicht der Sekte angehörenden Elternteil zuspricht.

Hier wird jedenfalls von deutschen Familienrichtern oft übersehen, dass das deutsche Grundgesetz nicht nur die Religionsfreiheit schützt, sondern auch den Kindern Grundrechte gewährt, wobei hier immer eine Güter- und Interessenabwägung zwischen den einzelnen Grundrechten stattzufinden hat. Als schutzwürdige Güter unserer deutschen Verfassung sind insbesondere zu erwähnen die Menschenwürde, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und der Schutz von Ehe und Familie bzw. die Wache der staatlichen Gemeinschaft über die elterliche Pflege und Erziehung der Kinder. Ich gehe davon aus, dass in allen europäischen Verfassungen der Staat über die elterliche Pflege und Erziehung der Kinder wacht, sogenanntes "Wächteramt des Staates". Der Staat kann also sehr wohl eingreifen wenn durch die Zugehörigkeit eines EIternteils zu einer Sekte das körperliche, geistige oder seelische Wohl des bei diesem Elternteil lebenden Kindes gefährdet ist. Darauf hat in Deutschland in bemerkenswerter Deutlichkeit das Oberlandesgericht Frankfurt in einem Beschluss aus dem Jahre 1994 ausdrücklich hingewiesen. Wenn eine Sekte Kinder langfristig in eine Außenseiterrolle drängt, diese Kinder einen überzogen autoritären Erziehungsstil erleiden müssen und die Kinder sich nicht zu selbstbestimmten, gesellschaftstauglichen Mitmenschen entwickeln können, so kann und muss der Staat eingreifen. Er kann und muss in solchen Fällen das Sorgerecht dem das Kind schützenden Elternteil zuweisen und darf sich daran nicht hindern lassen durch das oft auch nur vorgeschobene Recht auf Glaubensfreiheit. Im übrigen hat das Oberlandesgericht Frankfurt darauf hingewiesen, dass die ebenfalls vom deutschen Grundgesetz geschützte Freiheit des Kindes, später einmal über die rechte Religion oder Nichtreligion zu befinden, tangiert wird, wenn es von frühester Kindheit an nur eine Lehre regelrecht eingehämmert bekommt. Wie schädlich wirkt es auf Kinder von Eltern, welche sich beispielsweise zu den Zeugen Jehovas bekennen, wenn Abtrünnige aus der Gemeinschaft regelrecht ausgestoßen werden und es den anderen Zeugen streng verboten ist, mit diesen Personen überhaupt noch Kontakt zu pflegen. Hier wird ein "schwarz-weiß Denken" erzeugt, die Menschen werden eingeteilt in Gut und Böse. Eine solche Denkweise ist für die kindliche Entwicklung als Grundlage für die spätere Sozialisation sicherlich wenig förderlich. Ein weiteres Beispiel liefert uns Scientology. In dieser rigoristischen Gruppe wird die Gleichsetzung von Kindern und Erwachsenen gepredigt. L. Ron Hubbard hat Im Jahre 1983 geschrieben, ein Kind sei nichts anderes als "ein Mann oder eine Frau, der oder die noch nicht zur vollen Größe herangewachsen ist." Danach gelte jedes Gesetz, das für das Verhalten von Männern und Frauen Gültigkeit habe, auch für Kinder. Diese Lehre steht im Widerspruch zu der im deutsche Gesetz verankerten Verpflichtung der Eltern, Kinder altersgerecht zu erziehen. Die Kinder werden bei Scientology zum Beispiel auch auf das spätere "Auditing" vorbereitet; ja sogar ab dem Alter von acht Jahren wird "Kinder-Auditing" angeboten. Ich brauche wohl nicht näher zu erläutern, dass durch die dabei eingesetzte Psychotechnik für die Kinder Ängste und Schuldgefühle erzeugt werden. Mit diesen Techniken können die Kinder auch gezielt über ihre Eltern ausgefragt werden.

Obwohl die Gerichte in Deutschland diese Gefahren für die Kinder durchaus erkennen, tun sie sich Im Einzelfall doch sehr schwer damit, klare Entscheidungen zu treffen, wenn es um die Frage geht ob ein in einer Sekte befindliches Elternteil ungeeignet ist zur Erziehung des Kindes.

Hier beginnt in famliengerichtlichen Verfahren die Arbeit für mich als Anwalt:

Es gilt dem Familienrichter zunächst die Erziehungsvorgaben der Sekte darzulegen. In einem zweiten Schritt muss dann herausgearbeitet werden, in welcher Weise und in welchem Umfang der Elternteil bereits durch die rigoristische Gruppe beeinflusst ist. Hier ist dann im Einzelnen herauszuarbeiten inwieweit die Vorgaben der Sekte in die Erziehungsmethoden eingeflossen sind. Beispielhaft will ich nur häufige und unverhältnismäßige Züchtigungen erwähnen. Schließlich sind in einem weiteren Schritt die konkreten Auswirkungen dieses Erziehungsstils auf das Kind darzulegen. So findet man häufig bei solchen Kindern Minderwertigkeitskomplexe, Leistungsdefizite, Abkoppelungstendenzen, Angst und Unsicherheit.

Obwohl in der juristischen Literatur die Auffassung vertreten wird derartige Schäden müssten nicht unbedingt bereits eingetreten sein, es reiche aus, wenn solche Schäden aufgrund von bestimmten Indizien bereits absehbar seien, so tut sich die Praxis im Einzelfall doch recht schwer damit, aufgrund von Prognosen eine ggf. abändernde Sorgerechtsentscheidung zu treffen. Natürlich haben die Sekten inzwischen "Gegenstrategien" entwickelt; die Sektenanhänger geben sich im Gerichtssaal ausgesprochen moderat und weltoffen, so dass es ihnen häufig gelingt, die Richter über die weiteren Vorgaben und Ziele der Sekte zu täuschen.

Hier wäre sicherlich wünschenswert eine bessere Aufklärung der zuständigen Familienrichter, damit sie auf diese Täuschungsmechanismen erst gar nicht hereinfallen.

"Kids e.V." hatte im Anschluss an den Abschlussbericht der vom Parlament eingesetzten Enquete-Kommission zum Thema "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" die Bundesregierung aufgefordert in verstärktem Umfang Fortbildungsveranstaltungen für Jugendämter und Familienrichter durchzuführen zum Thema "Sorgerecht bei Zugehörigkeit von Elternteilen zu einer Sekte". Eine andere Forderung der Enquete-Kommission, welche auch von "Kids e.V." erhoben wurde, lautete, im Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches entwürdigende Erziehungsmaßnahmen auch im Zusammenhang mit religiöser Betätigung zu verbieten, ferner seelische Verletzungen und körperliche Bestrafungen der Kinder. Diesen Forderungen wurde vom Gesetzgeber im Jahre 2000 nachgekommen. ES dauert allerdings in Deutschland immer einige Zeit, bis neue Gesetze auch in das Bewusstsein der Richter dringen und konsequent angewendet werden bis hin zu einer möglichen Aufgabe der bisherigen Rechtssprechung.

Vor Gericht sind die Mitglieder von Sekten oftmals sehr gut vorbereitet. So empfehlen beispielsweise die Zeugen Jehovas Ihren Anhängern dringend in Sorgerechtsfällen die Rechtsabteilung der Wachtturmgesellschaft zu konsultieren und sich dort entsprechend beraten und sogar vertreten zu lassen. In der Broschüre der Zeugen Jehovas aus Amerika "Preparing for child custody cases" werden strikte Anweisungen für Kinder herausgegeben, wie sie vor einem Richter oder einem Jugendamt aussagen sollen. Ein Anwaltskollege aus den USA wirft zum Beispiel den Zeugen Jehovas Anstiftung zum Meineid vor und behauptet beim "Battling over the children" - zu Deutsch "Der Kampf um die Kinder" - schreckten die Zeugen Jehovas auch nicht vor Lügen zurück. Damit einher gehen häufige Ortswechsel, um dem nicht der Sekte angehörenden anderen Elternteil das Recht zum Besuch des Kindes zu erschweren oder gar unmöglich zu machen.

Leider durchschauen die Richter in Deutschland diese "Taktiken" oftmals nicht hinreichend und lassen sich von den nach außen hin harmlos wirkenden Sektenmitgliedern regelrecht täuschen.

Vielleicht reagiert man gerade in Deutschland aufgrund seiner Vergangenheit im Dritten Reich im Unterschied beispielsweise zu Frankreich mit seiner strikten Trennung von Staat und Religion übersensibel im Hinblick auf den Schutz der Religionsfreiheit. So verwundet es nicht, dass beispielsweise die Zeugen Jehovas in Deutschland vor Gericht um die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts erbittert kämpfen. Auch das noch in der Planung begriffene sogenannte Antidiskriminierungsgesetz lässt die Befürchtung zu, dass pseudo-religiöse Gruppen versuchen könnten, unter dem Deckmantel eines solchen Gesetzes ihre gar nicht religiösen Ziele zu verfolgen. Der Diskussionsentwurf für dieses Gesetz sieht vor, dass neben den an sich sinnvollen Regelungen zur Beseitigung der Diskriminierung Behinderter und Benachteiligter als Merkmal für Diskriminierungen auch "Religion und Weltanschauung" aufgeführt werden. Die Begriffe "Religion und Weltanschauung" werden aber nach diesem Entwurf nicht definiert; dies will man wieder den Gerichten überlassen. So sehen wir von "Kids e.V." und andere Gruppierungen, welche rigoristische Gruppen bekämpfen, die Gefahr, dass diese Gruppen den Schutz der Verbraucher auf dem Psychomarkt unter Berufung auf das Benachteiligungsverbot verhindern und noch ungehemmter ihre oft nur der Geldvermehrung dienenden Methoden zur Rekrutierung von Anhängern anwenden können. Hier werden wir zusammen mit anderen Organisationen unsere Vorbehalte geltend machen und auf eine Änderung des Gesetzeswortlautes drängen.

Sie sehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass "Kids e.V." durchaus präventiv tätig ist, um auf das Motto dieser Veranstaltung zurückzukommen. Prävention im Rahmen unserer Vereinsarbeit kann insoweit nur bedeuten, die Politiker und die staatlichen Stellen auf die Gefahren aufmerksam zu machen, weiche von Sekten und sektenähnlichen Gruppen ausgehen. Kinder und Jugendliche bedürfen des besonderen Schutzes in der Gesellschaft. Damit von den Entscheidungsträgern dieser Gesellschaft richtige, am Wohl des Kindes orientierte Entscheidungen getroffen werden können, ist die Information über Sekten und sektenähnliche Gruppierungen und deren Ziele und Wertvorstellungen unerlässlich. Nur wenn es uns allen gelingt, die Erzieher, die Betreuer in staatlichen Institutionen und die Familien- und Jugendrichter auf die besondere Problematik bei Fällen von Sektenzugehörigkeit aufmerksam zu machen, werden am Wohl des Kindes orientierte Entscheidungen getroffen werden können.

Das Kind sollte eben nicht erst in den Brunnen fallen müssen damit es gerettet wird. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen viel Erfolg bei unserer täglichen Arbeit.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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