Friedrich Griess: Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und ihre Infragestellung durch totalitäre Organisationen

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union

und ihre Infragestellung durch totalitäre Organisationen

Friedrich Griess

ehem. Präsident der Europäischen Föderation der Zentren für Forschung und Information über das Sektenwesen (FECRIS)

 

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurde am 7. Dezember 2000 vom Europäischen Rat auf seiner Tagung in Nizza, von der Europäischen Kommission, vom Europäischen Parlament und vom Ministerrat der Europäischen Union verkündet. In der Präambel der Charta steht unter anderem, dass die Völker Europas entschlossen sind, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen. Weiters steht vom Bewusstsein des geistig-religiösen und sittlichen Erbes, den unteilbaren und universellen Werten der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität sowie den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. In der Grundrechtscharta sind in einem einzigen Text alle zivilen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte des Unionsbürgers sowie jeder Person, die in der Europäischen Union lebt, vereint. Diese Rechte sind in sechs große Kapitel unterteilt: Würde, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Unionsbürgerschaft und Recht. Die Aufnahme der Grundrechte in den Lissabon-Vertrag wird nach dessen Inkrafttreten bedeuten, dass die EU-Organe und die Mitgliedstaaten rechtlich verpflichtet sind, die Grundrechte zu achten und zu schützen.

 

Wenn es ernst genommen werden soll, dass die EU-Organe und die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Grundrechte auch zu schützen, dann bedeutet das, dass sie nichtstaatliche Organisationen hindern müssen, die Grundrechte zu verletzen. Dann steht ihnen aber eine gewaltige Aufgabe bevor. Es gibt nämliche eine ganze Reihe totalitärer Organisationen, die sich berechtigt meinen, diese Grundrechte zu untergraben. Diese Organisationen, in der Umgangssprache meist als „Sekten“ bezeichnet, operieren gewöhnlich auf (pseudo-) religiöser, (pseudo-)wissenschaftlicher, politischer oder kommerzieller Basis, und ihre Tätigkeit widerspricht in vielfacher Weise der Charta der Grundrechte:

 

Sie gefährden die Würde des Menschen (Artikel 1 der Charta) durch extrem hierarchische Strukturen und bedingungslose Unterwerfung der Anhänger unter despotische Leiter, Führer oder Gurus.

 

Einige von ihnen gefährden das Recht auf Leben (Artikel 2) durch die Verweigerung medizinischer Behandlung, rituelle Morde, Reinigungstötungen, kollektive Selbstmorde und indirekt hervorgerufene individuelle Selbstmorde, wie traurige Ereignisse in den letzten Dezennien zeigten. Auch Todesurteile, die nur symbolisch gegen vermeintliche „unterdrückerische Personen“ ausgesprochen werden, oder der bloße kollektive Wunsch nach Vernichtung all derer, die nicht „dazugehören“, sind Verletzungen der Charta.

 

Das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit (Artikel 3) beinhaltet auch ausdrücklich das Verbot des reproduktiven Klonens, das zumindest von einer solchen Organisation propagiert wird.

 

Straflager, Prügelstrafen und rabiate „Reinigungsrituale“ widersprechen dem Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Artikel 4).

 

Die Ausbeutung von Menschen unter dem Vorwand der angeblichen freiwilligen Dienstbereitschaft widerspricht dem Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Artikel 5). An Menschenhandel grenzt es, wenn Menschen auf Grund eines Fotos über Kontinente hinweg verheiratet oder Kinder an fremde Familien „verschenkt“ werden.

 

Das fundamentale Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 6) wird durch die Unterwerfung unter die Willkürherrschaft des Leiters/Führers/Gurus und seine auch alltägliche Angelegenheiten betreffenden Vorschriften erheblich eingeschränkt. DieAchtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 7) wird durch Eingriffe wie zum Beispiel den bei mehren Sekten üblichen „Trennungsbefehl“ untergraben.

 

Der Schutz personenbezogener Daten (Artikel 8) fällt dem „Kult des Geständnisses“ zum Opfer, in dem die Mitglieder ihr inneres Leben völlig offen legen müssen, was später zu ihrer Erpressung benützt werden kann.

 

Das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen (Artikel 9) weicht entweder einer hemmungslosen Promiskuität oder aber einer übertriebenen Prüderie, bei der auch die Wahl des Lebenspartners von oben her geregelt wird, oder einem totalen Eheverbot. (Der Einwand, auch katholischen Priestern und Ordensleuten sei die Ehe verboten, ist insofern nicht gerechtfertigt, als es im Gegensatz zu jenen Sekten, welche die Ehe verbieten, nach katholischer Lehre nicht heilsnotwendig ist, Priester zu sein oder einem Orden beizutreten.)

 

Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel10). Dieses Recht umfasst die Freiheit, ohne Druck und Täuschung seine eigenen Glaubensvorstellungen zu entwickeln, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. Um diese Art von Freiheit ausüben zu können, ist es innerhalb der Gruppe, von der der Einzelne abhängt, notwendig, alles für die Entfaltung einer wahrhaften Freiheit zu tun, was zugunsten des Einzelnen eine Öffnung, einen Austausch, einen Dialog, einen kritischen Geist, eine Möglichkeit des Infragestellens beinhaltet. All dies ist innerhalb der Sekten nicht gegeben. Das Paradoxe besteht in dem Umstand, dass die Sekten im Sinne der Gruppenstruktur diese den Einzelnen schützenden Freiheiten für sich selbst als soziale Gruppe fordern und so eine Umkehrung der eigentlichen Werte betreiben, die durch die europäische Charta geschützt sind.

 

Ähnliche Überlegungen ließen sich für viele der übrigen 40 Artikel der Charta anstellen.

 

Von der Europäischen Union und den Regierungen ihrer Mitgliedstaaten wäre zu fordern:

 

  • jenen Organisationen, die gegen die Charta der Grundrechte verstoßen, keine Privilegien wie Gemeinnützigkeitsstatus oder Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft bzw. Religionsgemeinschaft zu gewähren;
  • diese Organisationen auch nicht durch Teilnahme von Vertretern staatlicher und überstaatlicher Organe an deren Veranstaltungen oder umgekehrt durch Einladung deren Vertreter zu offiziellen Ereignissen moralisch aufzuwerten;
  • die Bevölkerung und insbesondere die Jugend in geeigneter Form vor diesen Organisationen zu warnen, wie dies ja vielfach bereits geschieht;
  • innerhalb der Europäischen Union ein einheitliches Verhalten der staatlichen Organe bezüglich dieser Organisationen anzustreben;
  • Verstöße gegen die Grundrechte auch nach nationalem Recht strafbar zu machen.

 

Referenzen:

http://www.europarl.europa.eu/parliament/public/staticDisplay.do?id=47&pageRank=6&language=DE

http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A6-2007-0445+0+DOC+XML+V0//DE#title2

http://griess.st1.at/gsk/fecris/Sekten%20und%20europaeische%20Werte.htm