Max H. FRIEDRICH

ÖSTERREICH

Max H. FRIEDRICH

– Professor der Psychiatrie an der Wiener Universität für Medizin,
– Berater der österreichischen Regierung in Sektenfragen

Führt Psychopathologie zu Sekten oder führen Sekten in die Psychopathologie ?

Vielen herzlichen Dank für die Einladung für einen Vertreter aus Österreich. Erlauben sie mir, eine kurze Vorstellung, ich bin seit 33 Jahren in der Psychiatrie und speziell in der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig. Ich bin der einzige österreichische Vorstand einer Univ. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, habe eine tiefenpsychologische Ausbildung in Individualpsychologie nach Alfred Adler und bin Lehranalytiker und ich habe eine gruppenanalytische Zusatzausbildung. Vor allem aber bin ich auch Vater von 4 Kindern und somit mit dem jugendlichen Alter vertraut und ich war viele Jahre Konsulent für Sektenfragen und für religiöse Jugendkulte im Unterrichtsministerium meines Landes, in dem diese Fragen im Zusammenhang mit dem Innenministerium verwaltet werden. Schließlich war ich Gutachter bei 2 Anträgen die pseudoreligiöse Gruppierungen an unsere Regierung gestellt haben, um den Status einer anerkannten Kirchengemeinschaft zu bekommen. Beide Gruppierungen haben ihren Antrag vor der staatlichen Entscheidung zurückgezogen, wobei es durchaus möglich wäre, dass durch Indiskretion das Gutachtenergebnis den Betroffenen vorzeitig bekannt wurde.

Ich möchte eine Programmatik voranstellen, die mein Thema beleuchten soll. Im ersten Teil werde ich über ganzheitliche Persönlichkeitserfassung und ihre Struktur sprechen. Im Anschluss werde ich mir erlauben, entwicklungspsychologische Parameter der Adoleszenz vorzustellen, da dieses Lebensalter häufig Einzelsymptome psychopathologischer Ausformung zeigt. Im 3. Teil gestatte ich mir, über das pädagogischen Vakuum Gedanken auszubreiten und einen Bogen der Erziehungsmaximen der letzten 100 Jahren Revue passieren zu lassen. Zuletzt soll mein Hauptthema dargestellt werden, nämlich der Weg von der relativen Norm eines Menschen zur Pathologie, also eine Grenzflächenbetrachtung. Dieser Sichtweise soll gegenüber gestellt werden, der Weg eines jungen Menschen der spürbare psychische Symptome zeigt und einen Gesundungsversuch probiert. Manchmal, nicht nur durch die Drogenszene, sondern durch Abhängigkeitsriten durch pseudoreligiöse Kultzugehörigkeit.

Zum 1. die ganzheitliche Persönlichkeitsstruktur:

Um einen Menschen, gleichgültig in welchem Lebensalter er sich befindet, ganzheitlich zu erfassen, bedarf es eines 5 Felder-Schemas, sowohl im aktuellen Querschnitt, als auch in seiner Persönlichkeitsentwicklung. So ist ein Mensch nach seinen körperlichen, intellektuellen, emotionalen und sozialen Bereichen und in seiner Gender-Frage zu erfassen. Setzt man sich diese Betrachtung zum Ziel, so ist sowohl der aktuelle Seins-Zustand, als auch seine Persönlichkeitsentwicklung in einzelnen zeitlichen Querschnitten zu einem Längsschnittverlauf zu beurteilen. Heute im hier und jetzt, kann ich körperliche Befindlichkeit, die Handicaps vermerken, ich kann die Intellektualität gleichsam in der vorgegebenen Hardware-Ausstattung und in den durch Erziehung eingespielten Softwareprogrammen erfassen. Die Letzteren sind nicht nur obligate Kulturfertigkeiten des schulischen Wissenserwerb von Lesen, Schreiben und Rechnen, von lexikalischer Bildungsansammlung, sondern vielmehr auch im kreativen Bereich, im assoziativen Bereich und vor allem auch in der für mich höchsten Denkleistung, in der antizipatorischen Befähigung sinn- und planvoll vorausdenken zu können und nach dieser Einsicht handeln zu können, beurteilbar.

Im 3. Bereich ist die Emotionalität nicht nur von ihrer individuellen Schwingungsfähigkeit zu betrachten, also auch von jenen genetisch vorprogrammierten Ausstattungen des Temperamentes und der emotionalen Grundstruktur, sondern vielmehr von der höchst qualifizierten Fähigkeit in eigenen und in fremden Gefühlen lesen zu können. Der Begriff der Alexithymie, der Unfähigkeit in Gefühlen lesen zu können, hatte unter den Individualpsychologen der 30er Jahre des vergangen Jahrhunderts bereits wichtige Bedeutung erlangt und gewinnt in einer kommunikationsüberfluteten aber entindividualisierten Welt höchste Bedeutung. In Gefühlen von Angst, euphorischer Gewinnmaximierung nach dem Motto „high risk is fun“, zunehmender depressiver Gestimmtheit bzw. Verstimmung bis hin zu einem hohen Maß von Gereiztheit und Aggression, sind vor allem junge Menschen in ihrem Gefährdungspotential zu beobachten.
Außerdem ist das soziale Feld in die Betrachtung aufzunehmen. Welcher Sozialisation ist ein Kind und ein Jugendlicher ausgesetzt, damit er schließlich in Reife, von einem gebildeten Gewissen geleitet wird. Wie sieht seine Tragweitenerkennung aus, nämlich ein Recht oder ein Unrecht planend voraus zu denken und nicht nur Einsicht zu besitzen, sondern auch fähig zu sein, nach dieser Einsicht zu handeln.

Zuletzt ist die Gender-Frage von Bedeutung, da gerade in diesem Bereich unterschiedliche Verführungs- und Abhängigkeitsverhalten, vor allem im Anwerben zu religiösen Gruppierungen, in der Forderung der Zugehörigkeit, wie auch in der Erpressung sich wiederum befreien zu können, schamlos ausgenützt werden können.

Ich darf in einem Satz zusammenfassen, die Ganzheitsbetrachtung nach körperlichen, intellektuellen, emotionalen und sozialen und Gender-Fragen, darf uns im Umgang mit betroffenen Menschen nie in ihrer Gesamtheit und sozialen Verschränkung aus dem Blickfeld geraten.

2. Teil

In mehreren Publikationen habe ich mich mit dem Thema des Jugendalters und dem Thema des jungen Erwachsenenalter auseinandergesetzt. In meinem Buch Irrgarten Pubertät habe ich versucht den Suchprozess eines jungen Menschen auf dem Weg in die Erwachsenenwelt nachzuspüren.

Dieser Suchprozess ist von 3 I´s geprägt, nämlich der Suche nach Identität, nach Identifikation und nach Intimität. Die Frage nach Identität bedeutet für einen jungen Menschen, wie werde ich als erwachsener Mensch sein, wie strukturiert sich mein Ich im Denken, Fühlen, Wollen und Handeln. Es stellt sich die Frage „wie wirke ich auf andere und andere auf mich“, „wie ist es erwachsener Mann bzw. erwachsene Frau zu sein“.

Die Suche nach Identifikationen ist jener Reifungsprozess in dem man Vorbilder, Leitbilder, Ideale und Ideologien sucht. In diesem Bereich besteht das hohe Gefährdungspotential mangelnder Kritikfähigkeit und mangelnder Diskussionskultur psychischen Verführern ausgesetzt zu sein. Diese lauern in politischen Extremismusgruppen, in religiösen Fanatismuskulturen, aber auch in Verführung zu kriminellen Handlungen, zu Modetrends und schließlich zur Idealisierung von Genussmaximierung vor Lebensaktivierung.

Der 3. Suchprozess ist die Suche nach Intimität. Noch lange bevor der Suchprozess nach der sexuellen Intimität startet, kommt es im emotionalen Ablösungsprozess aus dem Elternhaus zur Suche von Nähe und Distanz. Es entsteht gleichsam ein Vakuum der Bindungsmodalitäten, da nur durch Konflikt der Ablösungsprozess in Gang gesetzt werden kann und die Einschätzung neuer emotionaler Bindungen aus dem lebensaltertypischen Energiedefizit noch nicht gelingt. In diesem Entwicklungsstadium setzen all jene Verführergruppen an, die vermeintlich auf alle Fragen eines verunsicherten Menschen ein Patentrezept zu besitzen glauben und die Schwächen dieses Lebensalters für die Akquisition in ihre Ideologie ausnützen. Die Unsicherheit des Jugendlichen lässt Nähe suchen und rund um diese Unsicherheit siedelt sich auch die lebensaltertypische passagere Psychopathologie an.

3. Teil

Die 3. grundsätzliche Überlegung handelt um die unterschiedlichen pädagogischen Erziehungsstile. Die autoritären Maximen des letzten Jahrhunderts führten in 2 Weltkriege, in denen unreflektierter Gehorsam autoritäre Führungsstrukturen und Personen als Leitbild dienten. „Gehorchen“ auf Blick und Wort galt als Devise. Das Gegenpendel antiautoritärer Erziehung kann heute ebenfalls als misslungen betrachtet werden, schließlich bedeutet antiautoritäre Erziehung, Kinder in Angst aufwachsen zu lassen und sie nicht auf die Gefahren und Versagungen des Lebens vorzubereiten. Es schlossen sich der demokratische Erziehungsstil an, in dem alles und jedes ausdiskutiert und abgestimmt werden mußte, man erinnere sich an die apodiktischen Aussprüche der Kinder. Schließlich machte sich ein laisserfairer Erziehungsstil, genannt liberale Erziehung breit, der ein hohes Maß an Erziehungsinkompetenz und Entscheidungsunwilligkeit nach sich zog weshalb sich die Jugend selbständig machte. Sie erfand vor ca. 15 Jahren die Peer-Group-Erziehung. Immer jüngere Kinder fordern den Status des Jugendlichen und das jugendlichen Alter ist nach oben hin offen. Schließlich ist „fit sein“ alles und die Peer-Group-Erziehung wurde zum Jugendkult „Dazu zugehören ist alles“, wir machen uns unsere Erziehung alleine. Auch in dieses Vakuum stießen natürlich sektierische Gruppierungen vor und fanden eine reiche Ernte.

Ich bin kein Erziehungswissenschafter, sondern ein tiefenpsychologisch denkender Arzt und Vater. Ausschließlich das Imitationslernen dessen sich Erwachsene bewusst sein müssen, gibt Richtlinien vor, erfordert aber Diskussions- und Konfliktkultur und ein hohes Maß von Selbstbeherrschung bei Eltern, KindergärtnerInnen, LehrerInnen und anderen Erziehungspersonen. Weiters erscheint in der Ermöglichung von Versuch Irrtumslernen gegeben zu sein, dass nur wer Gefahren erkennen kann, in diesen nicht umkommt. Kinder müssen in der Erziehung auch kalkulierbaren Gefahren behutsam ausgesetzt werden, damit sie solche im späteren Alter, vor allem gegenüber Verführern, die allesamt ja Werbepsychologie beherrschen, bestehen zu können. Auch sollte man in der Erziehung auf die Verhörerziehung verzichten, nämlich jene Fragen zu stellen, die für den Erziehungsberechtigten ohnehin in ihrer Beantwortung erkennbar sind und den Befragten nur in peinliche Abwehrreaktionen bringen.

Von dem bisher gesagten, soll uns der Weg in die Psychopathologie und in die Symptomatologie junger Menschen führen. Psychopathologie ist die Lehre von den geistig-, seelisch-, emotionalen Abweichungen, die zu sozialen Konflikten führen und behandlungsbedürftig sind. Ich bekenne ein, dass es schwierig ist der WHO-Definition für Gesundheit und Krankheit zu folgen, es ist auch schwierig einen Menschen für normal oder abnormal zu halten. Es gilt aber einen Weg menschlicher Würde zu wählen, wenn wir uns auf eine Definition der Behandlungsbedürftigkeit hin bewegen. Behandlungsbedürftig ist ein Mensch dann, wenn er seine lebensaltertypischen, kulturspezifischen Alltagsverrichtungen nicht imstande ist, zu erfüllen. Mit dieser Definition ist es durchaus möglich, der Zuordnung abwertender umgangssprachlicher Formulierungen zu entkommen und es ist bestmöglich Hilfe zu erhalten, impliziert.

Die nun folgenden Kernaussagen des Vortrages, sollen zu meinem Titel zurückführen, nämlich, ob jugendliche Psychopathologie einen Menschen in Sektengruppierungen hineinführt, oder ob pseudoreligiöse Kulte die angeworbenen Mitglieder durch ihre Riten, Rituale und Forderungen psychisch krank machen.

Ich bekenne aufgrund meiner Erfahrung, dass beide genannte Thesen als richtig anzuerkennen sind.

Folgen wir der ersten These:

Führt den psychisch labilen bzw. kranken Menschen sein Suchprozess in eine Sekte?

Das Jugendalter ist nicht nur als Suchprozess, sondern auch als Krisenalter definiert, wobei die häufigsten Krisen Autoritätskonflikte, Schul-, Lern- und Leistungsprobleme, Arbeitsplatzschwierigkeiten und Partnerschaftskonflikte umfassen. Als Symptome dieser Krisen sind Ängste, Zwänge, Stimmungsschwankungen in Richtung von Depressionen und psychosomatische Befindlichkeitsstörungen zu nennen. Fast man die Konflikte und ihre Symptome zusammen, so finden sich als Diagnosen Persönlichkeitsentwicklungsstörungen mit Luxus- bzw. Mangelverwahrlosung, Exzentrik, Ich-Störungen mit Depersonalisation und Derealisation, tatsächliche existentielle Sinnkrisen als posttraumatische Erlebnis- und Belastungsreaktionen, sowie Lebensvollzugseinschränkungen die häufig zu Experimentierfreudigkeit führen.

Jede der genannten Krisen, der Symptome oder der Syndrome bedrohen einen Jugendlichen so sehr, dass er Lösungsvarianten oder Heilsversprechungen gegenüber anfällig ist. Selbstheilungsversuche finden im besten Sinne durch Vertrauen gegenüber der Familie oder im Freundeskreis statt, oder durch Aufsuchen von professioneller psychologisch-psychiatrischer Hilfe. Im negativen Fall entstehen Selbstheilungsversuche durch Experimentieren mit Drogen oder durch Erliegen von Versprechungen durch Guruismus oder pseudoreligiöse Vereinigungen. Schließlich wird nicht zufällig der Begriff von „Heilslehren“ verwendet, also Botschaften durch Vereinigungen, die dem Körper, der Seele und dem Geist Stabilisierung versprechen.

Besonders gefährdet sind Menschen deren psychisches Bild von wahnhaften Symptomen geprägt ist. Ein Wahn ist definiert durch Irrealität, subjektive Gewissheit und Unkorrigierbarkeit. Gelingt es dem Sektierer, jeden dieser 3 Begriffe dem Anfälligen plausibel zu machen, so wird er unkritisch gegen das Theoriegebäude der Sekte, er wird eingeschworen auf die subjektive Gewissheit einen neuen und vollkommenen Lebensplan zu erhalten und er wehrt sich gegen die Außenwelt in dem er an der irrealen Meinung festhält und unkorrigierbar wird. Auf diese Weise büßt er seine lebenskritische Einstellung ein. All die genannten Konflikte, Symptome und Syndrome führen zur Bereitschaft und raschen Abhängigkeit der sektiererischen Verführer.

Diese von mir dramatisch dargestellten Befindlichkeiten von Jugendlichen können natürlich auch in Teilsymptomen auftreten. Durch die Symptomatik ist Gefahr gegeben, sich als Jugendlicher in die Isolation zurückzuziehen und aus der Gemeinschaft der Familie oder sozialen Umwelt herauszufallen, wofür dann die Hilfeleistung von Seiten der Sektengruppierung als Hilfsinstrument einspringt.

Die 2. These ist gleichrangig zu behandeln:

Es stellt sich die Frage, machen Sekten durch ihre Forderungen an ihre angeworbenen Mitglieder, die Mitglieder krank?

Grundsätzlich ist zu vermerken, dass der Eintritt in eine sektiererische Gruppierung bei jungen Menschen aus dem eingangs erwähnten Suchprozess, wie auch aus dem das Leben verunsichernden Ablösungsprozess aus dem Elternhaus begünstigt wird. Wer kennt nicht aus seiner eigenen Geschichte die Bilanzdepression des Adoleszentenalters, in dem körperliche Schwäche und Minderwertigkeit im intellektuellen, emotionalen und sozialen Bereich vorherrschend waren. Vielleicht ist es in diesem jugendlichen Lebensalter die verunsichernde Eigenbilanz die sich zeigt und verführerisch wird eine Rezeptologie der umfassenden Zufriedenheit angeboten. Der psychisch labile Jugendliche erliegt der vermeintlichen Schutz- und Stützungsfunktion, er findet eine ihm versagt gebliebene Gruppe, er erlangt Trost und vor allem in seiner Sinnsuche vermeintliche Lösungen von ihn quälenden Fragen. In dieser psychischen Verfassung gerät er in eine Gruppierung die seine Persönlichkeit massiv auf wenige Bereiche von Lebensmöglichkeit und Gestaltung einengt. Geboten wird dem Jugendlichen psychischer Rückschritt auf kindliche Entwicklungsphasen. Das realistische Urteils- und Kritikvermögen wird eingeschränkt bis hin zum Verlust. Auch die Berufsfähigkeit und Selbständigkeit wird eingeengt. Sehr häufig kommt es zum Verlust finanzieller Unabhängigkeit und zum Verlust von Bindungs- und Verantwortungsfähigkeit gegenüber Familie, Bekannten und Freunden. In der Isolation aus dem Freundeskreis, außerhalb der jeweiligen Organisation entsteht eine massive innere Bindung an die sektiererische Gruppierung. Die Außenfeinde werden deutlich bewusst gemacht und durch die zum Teil extrem belastende Lebensführung entstehen Erschöpfungszustände. Mit dem Verlust einer Eigenpersönlichkeit zugunsten einer Fremd- bzw. „Einheitspersönlichkeit“ sind manipulativ die Symptome schwerer psychischer Erkrankungen extern und manipulativ erreicht. Mit Drohungen gegenüber dem geforderten Gehorsam wird Angst erzeugt, mit rituellen Beschwörungen wird Zugehörigkeit und Aufgabe von individuellen Ich-Funktionen gefordert, durch Schuldgefühle wird Panik erzeugt und durch die Gestaltung des Außenfeindes wird die Paranoidie gefördert. Diese Vorgangsweise zielt auf eine totale Abhängigkeit von der Sektengruppierung ab und lässt das Mitglied zur Marionette verkommen. Da der Jugendliche üblicherweise noch kein stabiles Ich im Denken, Fühlen, Wollen und Handeln hat, braucht er die Außengemeinschaft für die Arbeit und seine Lebensvollzüge. Er benötigt Stütze und Hilfe für Schulabschluss und Arbeitsplatzfindung- und Erhaltung. Gerät er in eine psychosoziale Isolation aus der er sich aus Eigenem nicht befreien kann, gerät er in Panik. Er wird von Gruppen egoistischer, gewinnorientierter und totalitär vereinnahmender Ziele mehr und mehr gefangen genommen, bleibt somit einsam, unausgebildet, desintegriert und allfällig Gewalt und Missbrauch ausgesetzt.

Unter diesen seelisch traumatisierenden Faktoren entsteht eine traumatische Erlebnis- oder Belastungsreaktion ganz automatisch. Im prädisponierten Fall allerdings eine exogene oder endogene Psychose, also eine Geistes- oder Gemütskrankheit, oder eine diesen Krankheiten gleichwertige seelische Störung.

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Erlauben sie mir, dass ich zum Schluss komme, meine Erfahrung über Jahrzehnte hat gezeigt, dass nicht kirchlich anerkannte Gruppierungen 3 Kriterien die für Jugendliche gefährlich sind, verfolgen:

  1. Die Anwerbung in die jeweilige Gemeinschaft erfolgt unter Vorspiegelung Lebenspatentrezepte zu besitzen und dem in seinem gegenwärtigen Lebensvollzug verunsicherten Menschen die absoluten Lösungsansätze bieten zu können.
  2. Vom Moment der Zugehörigkeit setzt eine Manipulation in den Dimensionen körperlicher, intellektueller, emotionaler und sozialer Entfaltung ein, der sich ein junger Mensch nicht nur nicht entziehen kann, sondern der Manipulation erliegt.
  3. Versucht ein junger Mensch diesen Manipulationen zu entgehen, setzen Terrormaßnahmen ein, die ängstigen, Panik auslösen und die freiwillige Bereitschaft die Gruppierung zu verlassen, verhindern.

Primär psychisch stabile Personen, die in eine Sektengruppierung aufgenommen wurden und prädisponiert waren psychisch krank zu werden, sind nunmehr unfähig in Eigeninitiative in ein Leben außerhalb der Gruppierung anzudocken. Nur in psychischen Extremfällen, in denen die Gruppierung fürchten muss, dass ihr Mitglied gegen sich, oder andere, gegen Leib und Leben vorgeht, wird das Mitglied ausgestoßen. Eventuell werden auch Mitglieder zum Austritt bewegt, wenn sie vor allem ökonomisch uninteressant geworden sind. Die Psyche jener Jugendlichen, die von mir heute beschrieben worden sind, ist unter allen Umständen und bei allen Personen nachhaltig schwer gestört.

Marseille, März 2004