Yevgeniy VOLKOV

RUSSLAND

Yevgeniy VOLKOV

– Professor, Universität von Nizhniy Novgorod n.a. N.I. Lobachevsky, Russland,
– Sprecher der Organisation « Family and Personality Protection Society » (FPPS), Ukraine

Gesundes Denken als Mittel der Vorbeugung und Therapie
pathologischen Denkens in destruktiven Kulten

Ich habe beschlossen, meinem Beitrag ein kurzes Vorwort voran zu stellen, um die Auswahl des Themas für diese Tagung zu erläutern. Während der Jahre meiner Recherchenarbeit und Beratungspraxis über die Probleme destruktiver Kulte begegnete und begegne ich immer wieder zahlreichen und mannigfaltigen negativen Konsequenzen für die körperliche und seelische Gesundheit von deren Mitgliedern. Gleichzeitig bin ich weder Arzt noch Psychiater. Dennoch veranlassen mich viele Jahre wissenschaftlicher Arbeit und die Erfahrung als beratender Psychologe dazu, die Existenz eines bedeutenden und sich immer wiederholenden Aspekts hervorzuheben, der jedem dieser Fälle inhärent ist. Es geht um die komplette Abwesenheit von Fertigkeiten eines gesunden Denkens, über die ich in diesem Beitrag sprechen möchte.

Ich muss spezifizieren, dass ich in diesem Kontext die Begriffe „Gesundheit“ und „gesund“ nicht in deren laienhafter Bedeutung verwende, sondern mich strikt an die fachlichen Definitionen von Gesundheit halte. Dabei beziehe ich mich vor allem auf die bekannte Definition durch die World Health Organization:

„Gesundheit ist ein Zustand kompletten körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die bloße Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechlichkeit“.

In meinem Beitrag impliziert gesundes Denken also solche praktischen Denkfertigkeiten, die es nicht nur ermöglichen, „Krankheit und Gebrechen“ zu verhindern, sondern einen „Zustand kompletten körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“ zu erreichen. So gesehen ist gesundes Denken einer der wichtigsten Aspekte von Gesundheit in jeglichem Sinne. Die kognitive Sozialpsychologie – die Basis meiner Recherchen – , hat den Begriff des „gesunden Denkens“ mit praktischem wissenschaftlichen Inhalt gefüllt. Und am besten anwendbar auf die Fertigkeiten gesunden Denkens sind die Begriffe und die Fertigkeiten des kritischen Denkens, wie ich später aufzeigen werde.

Manchmal stößt man auf solch sorgfältige Beobachtungen, dass sich darüber Bände schreiben ließen. Einer meiner Lieblingsaphorismen empfiehlt folgende Definition für einen Verrückten:

„Ein Verrückter ist eine Person, die tausende lauter gleich geartete Versuche unternimmt und dabei jedes Mal ein anderes Ergebnis erwartet.“

Für diesen Beitrag ist dies in zweierlei Hinsicht ein guter Aphorismus – einmal als ein Beispiel für gesundes (kritisches) Denken, und zum anderen als Motivation für den Vortragenden, die Art der Behandlung zu verändern und die Probleme, um die es hier geht, zu lösen, um hinreichendere und zuverlässigere Ergebnisse zu erzielen.

Ich engagiere mich sehr für eine interdisziplinäre Herangehensweise und folglich für die Annahme, dass die Mehrheit bedeutender Wahrheiten nicht unter den Kompetenzen separater Wissenschaften verteilt ist, sondern auf jeweils unterschiedliche Weise von jeder Disziplin bestimmt wird. Ein Vergleich der Perspektiven erlaubt den Blick in verschiedene dreidimensionale Richtungen und die Bündelung separater Bemühungen.

Genau genommen ist es eine fruchtbare Herangehensweise, vor der Einführung einer Neuerung (was ja eine kritische Einstellung zu sich selbst und ein klares Verständnis des Verhältnisses zwischen erworbenem Wissen und individuellen Fähigkeiten erfordert) zu überprüfen, ob in bestehenden Wissensbereichen nicht bereits mehr oder weniger geeignete theoretische und experimentelle Daten vorliegen.

Von dieser Perspektive aus möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Schlussfolgerungen bezüglich der Rolle des gesunden Denkens lenken, das meines Erachtens bei der Bekämpfung destruktiver Manipulation derzeit am wesentlichsten und praktisch unverzichtbar ist.

Ich behaupte nicht, eine Entdeckung oder gar Offenbarung zu präsentieren, wenn ich annehme, dass eine Art Vorstrukturierung bestehenden Wissens, dessen Synthese und die Suche nach dem effizientesten Einsatz der Bemühungen oft zu einem weit wesentlicheren Resultat führt.

Die amerikanischen Geisteswissenschaftler Lee Ross und Richard E. Nisbett erläutern in ihrem Buch The Person and the Situation, dass die Sozialpsychologie für sich das philosophische Recht einfordert, den Menschen beizubringen, dass sie in Wirklichkeit nicht verstehen, wie die Welt, in der sie leben, angeordnet ist. (Ross L . und Nisbett, R.E. The Person and the Situation). Dieser Zweig der Psychologie hat wichtige Vermutungen angestellt über die Realisierung der tief verwurzelten Ignoranz und des wirklich mäßigen Verständnisses einer Person und der authentischen Merkmale ihrer Interaktionen mit anderen Menschen und der Wirklichkeit.

Das neue Verständnis geht von den drei Hauptprinzipien aus: dem situationsbezogenen Prinzip, dem Prinzip der objektiven Interpretation und Gestaltung und dem Vorstellungsvermögen über die spannungsgeladenen Systeme.

Das erste Prinzip besagt, dass Verhalten und Denken einer Person extrem von bestimmten Merkmalen der Situation abhängen, in der ein Individuum sich befindet. Ein wichtiger Zusatz zu dem Prinzip ist die Idee der so genannten „Channel-Faktoren“, d.h. der Elemente einer Situation, die weniger wichtig erscheinen, obwohl sie, wenn vorhanden, in bemerkenswerter Weise das Erreichen bestimmter Ziele steigern können; wenn nicht, dann trifft das Gegenteil zu..

Das zweite Prinzip erklärt den hohen Grad an Subjektivität und die eigentliche Phantasie einer Person bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Dieses Prinzip ermöglicht die Entwicklung adäquater Maßnahmen, um einer Person die Fertigkeiten zu vermitteln, die sie für eine bestmögliche Orientierung in der Welt benötigt.

Das dritte Prinzip ist die grundlegende Idee, die in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurde. Die Idee betrachtet individuellen und kollektiven Geist als ein dynamisches, intensives System, dessen Stabilität die Folge einer Nullsumme von Vektoren ist, wobei Vektoren kontinuierliche und kontroverse Wirkungen und Prozesse sind. Eine solche Idee ist das Ergebnis interdisziplinärer Errungenschaften, umgesetzt in den Theorien über Systeme, Chaos und Katastrophen, d.h. den Theorien jeglicher komplexen, dynamischen Formation. Eine wichtige Konsequenz des Konzepts ist die Orientierung an der Suche nach den „Channel-Faktoren“ und den kritischen Punkten für den Einsatz von Bemühungen (wobei relativ schwache Anstrengungen in scheinbar unbedeutende Richtungen in bemerkenswerten, sogar globalen Ergebnissen resultieren können), statt am Ansatz der direkten Problemlösung.

Bezogen auf das hier betrachtete Problem erfordert das erste Prinzip die Klärung der Situation, in der sich eine Person heute befindet und die sie zur illusorischen und pathologischen Interpretation der Realität veranlasst, oder dessen, was fehlt und ohne das es unmöglich ist, zu einer gesünderen und realistischeren Interpretation zu gelangen. Mit anderen Worten: Es ist notwendig, die Faktoren der Situation aufzudecken, die zum Erfolg des destruktiven Kults beitragen.

Das zweite Prinzip besagt, dass eine Person mit dem Wissen über ihre Fähigkeit zur verzerrten Interpretation und Selbsttäuschung ausgestattet werden muss, zusammen mit dem Wissen und den Fertigkeiten bezüglich einer adäquaten (gesunden, kritischen) Interpretation der Realität. Wird die Interpretationsfähigkeit a uf diesem Weg verbessert, kann sie gesunden und wirklich gegen Manipulation seitens Sekten und sektenähnlichen Gruppierungen geschützt werden.

Das dritte Prinzip führt unsere Betrachtung und unsere Bemühungen zu spezifischen Punkten, sozusagen „Hot Keys“, d.h. zu den Aspekten menschlichen Geistes und sozialer Situation, deren Veränderung es ermöglicht, mit dem geringsten Aufwand maximale Ergebnisse zu erzielen. In diesem Fall schlage ich vor, dem System des Wissens und der Fertigkeiten einer Person eine Komponente hinzuzufügen, die sie wesentlich widerstandsfähiger gegenüber dem Einfluss eines Kults macht, indem ich der Situation etwas hinzufüge, was die Position destruktiver Kulte schwächen würde.

Aus der Perspektive der modernen Sozialpsychologie ist jeder soziale Einfluss ein Zusammenspiel zweier Prozesse (Aspekte): Der Handlungen des beeinflussenden Agenten (z.B. des Anführers eines Kults, eines Gurus oder der Gruppe selbst) und der Wahrnehmung, Interpretation und mancher anderer psychischer Prozesse von Seiten des Ziels der Beeinflussung (einer Person, die von einem Kult angeworben wird oder eines normales Kultmitglieds).

Wir müssen über den Missbrauch bestimmter Aspekte und interner Prozesse des Opfers psychologischer Manipulation sprechen, der von der manipulativen Umgebung (Kult-Situation) provoziert, arrangiert und aufrecht erhalten wird, anstatt über den Kult und den direkten Einfluss des Anführers auf das Opfer. Folglich könnten die Anführer und Verfechter des Kults einräumen: „Ich kann nichts dafür, sie/er hat alles von alleine gemacht,“ während die Opfer den Missbrauch ihrer eigenen geistigen und gedanklichen Unzulänglichkeiten sowie ihrer Bestrebungen, Wünsche und Illusionen oft nicht zu erkennen und angemessen auszuwerten vermögen. Beachten Sie, dass der Schwerpunkt der Probleme, in dem die Kulte schmarotzen, das menschliche Bedürfnis nach einem definierten und klaren Orientierungssystem in der Welt ist, zusammen mit der Erfüllung von Wünschen.

Bezogen auf diese Idee erklärt sich die Effizienz des manipulativen Einflusses destruktiver Kulte nicht nur mit deren Organisation und Intensität, sondern auch mit dem Vorhandensein einiger Schwachpunkte beim Zielobjekt der Beeinflussung, d.h. einem typischen Ungleichgewichtsfaktor.

Wie wir inzwischen wissen, ist die Beeinflussung durch Sekten nichts Ungewöhnliches oder gar Exotisches. Es ist eine Sammlung üblicher sozialer Beeinflussungsprozesse, wenn auch in gewisser Weise arrangiert, ausgedehnt und zielgerichtet. Der Instabilitätsfaktor einer Person gegenüber solcher Beeinflussung ist ebenso keine Seltenheit, er ist ein typisches Merkmal der Gattung Mensch.

Die Sozialpsychologie hat zur Erklärung einer persönlichen Achillesferse beigetragen. Das bedeutet die grundlegende Abhängigkeit einer Persönlichkeit von Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt, welche von kognitiver Unvollkommenheit überladen ist (kognitive Vulnerabilität).

Das Gedeihen verdeckter Aktivitäten und deren Agenten ist teilweise aufgrund des extrem niedrigen Niveaus gesunden Denkens möglich, wie es für die absolute Mehrheit der Bevölkerung typisch ist, und dies sogar in Ländern, die sich auf den höchsten Standards von Ausbildung und Wissenschaft befinden und eben nicht auf einer Ebene der „irrestisable force“ psychologischer Manipulationstechniken. Der Autor dieses Beitrags ist der Auffassung, dass dies nicht der einzige Grund für den Boom destruktiver Kulte ist und auch nicht das einzige durch deren Aktivitäten ans Licht der Öffentlichkeit gelangte Problem, doch es ist der Schlüssel.

Bestimmte Muster und Mechanismen sind als „Schlüsselelemente“ charakterisiert. Sie mögen wie gewöhnliche Aspekte aussehen; dennoch, die Konzentration der Bemühungen auf genau diese Elemente erlaubt eine weit effizientere Lösung umfassenderer und globalerer Probleme. Ein solches Verständnis korrespondiert gut mit dem sozialpsychologischen Begriff der „Channel-Faktoren“; d.h. scheinbar bedeutungsloser und doch erleichternder Einflüsse und abschreckender Barrieren von entscheidender Bedeutung. Meiner Auffassung nach sind die Fertigkeiten zum gesunden kritischen Denken die entscheidenden „Schlüsselelemente“ oder „Channel-Faktoren“.

Viele, die versuchen, das Problem destruktiver Kulte ernsthaft anzugehen, sind zunehmend von der Wichtigkeit überzeugt, das kritische Denken bestehender oder potenzieller Opfer von Manipulation zu formen oder zu restaurieren. Im sozialpsychologischen Kontext wird die Vulnerabilität einer Person häufig erwähnt. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Querverbindungen zwischen den kognitiven und den sozialpsychologischen Aspekten der Vulnerabilität einer Person lenken, auf die Ermittlung des exakten Inhalts dieser Aspekte und deren Kernbedeutung für die Ergreifung von Gegenmaßnahmen gegen destruktive Kulte und all die anderen Formen manipulativen psychologischen Missbrauchs.

Ich bin der Meinung, dass kritisches Denken der Haupt-„Channel-Faktor“ ist, um die Positionen destruktiver Kulte sowie jeglichen Versuch des Missbrauchs der menschlichen Psyche oder der Unvollkommenheit des Denkens zu unterminieren.

Meiner Meinung nach lassen sich die Hauptprinzipien (Charakteristiken) und Fertigkeiten des gesunden (kritischen) Denkens bedingt in zwei Gruppen unterteilen:

  • philosophische und grundlegende methodologische Prinzipien, die interdisziplinäre Annahmen sowie die grundlegenden Annahmen der wissenschaftlichen Psychologie enthalten; und
  • instrumentelle Prinzipien und Fertigkeiten.

Beim Versuch, allgemeine ideologische Prinzipien des gesunden Denkens zu formulieren, kann sich folgendes ergeben:

  • die Anerkennung und Akzeptanz der grundlegenden kognitiven Unvollkommenheit jedes Menschen;
  • die Anerkennung der eigenen Fähigkeit zu Selbsttäuschung und Träumerei, festgesetzt durch den indirekten Charakter der Kommunikation mit der Realität;
  • die Anerkennung, dass eine solche Unvollkommenheit durch die Anwendung bestimmter Fertigkeiten der Kommunikation mit der Realität und einen Selbst-Check durch die Realität signifikant korrigiert (kompensiert) werden kann;
  • die Anerkennung, dass es Fragen ohne (menschliche) Antwort gibt und Phänomene ohne (menschlichen) Sinn, d.h. einfach unerkannt (oder unerkennbar), unbestimmt, seltsam und unbekannt;
  • die Verwerfung des ultimativen Wunsches, auf alle Fragen Antworten zu finden und allem einen Sinn zuzuordnen in Form von ungeprüften Offenbarungen und Phantasien und diese dann als Wahrheit einzustufen; die Anerkennung von Unsicherheit (kein Glaube, kein Wissen) in einer Anzahl von Dingen als die Norm menschlicher Existenz;
  • die Anerkennung, dass die reine Tatsache der Existenz eines Menschen in einer greifbaren realen Welt ein völlig ausreichender Boden ist für ein erfülltes und bewusstes Leben, ohne nach übernatürlichen oder außerirdischen „Gründen“ oder „Sinnhaftigkeiten“ suchen zu müssen;
  • die Anerkennung, dass eine Person als Individuum nur ein Leben hat, vor und nach welchem nur das Leben der Menschheit existiert, genauso nicht-irreal und einzig allein;
  • die Anerkennung des Glaubens an ein optimales Gefüge der Vernunft als eine der unverzichtbaren Komponenten des menschlichen Geistes und Lebens. Dies sollte jedoch einer Verwerfung kritischen Denkens und dessen Ergebnissen keinen Boden bieten.

Die instrumentellen Charakteristika des gesunden Denkens lassen sich am besten in einer Gegenüberstellung mit gewöhnlichem Denken darstellen (siehe die nachfolgenden beiden Tabellen, in denen jeweils leicht voneinander abweichende Begriffe verwendet werden).

Vergleich zwischen gewöhnlichem und gutem Denken

Gutes Denken

Gewöhnliches Denken

einschätzen

vermuten

auswerten

bevorzugen

klassifizieren

gruppieren

annehmen

glauben

logisch folgern

folgern

Prinzipien begreifen

Begriffe assoziieren

hypothetisieren

annehmen

Meinungen begründet äußern

Meinungen unbegründet äußern

Nach Kriterien beurteilen

ohne Kriterien beurteilen

Aus: Lipman, M. (1988). Critical thinking: What can it be? Educational Leadership. (46)1, 38-43.

Vergleich von Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten des Denkens

Vollkommenheiten

Unvollkommenheiten

Klarheit

Unklarheit

Präzision

Unpräzisiertheit

Spezifiziertheit

Verschwommenheit

Genauigkeit

Ungenauigkeit

Relevanz

Irrelevanz

Konsistenz

Inkonsistenz

Logik

Unlogik

Tiefe

Oberflächlichkeit

Vollständigkeit

Unvollständigkeit

Signifikanz

Trivialität

Fairness

Verzerrung

Angemessenheit (dem Zweck)

Unangemessenheit

Aus Paul, R. W. (1990). Critical Thinking: what every person needs to survive in a rapidly changing world. Rohnert Park, CA: Center for Critical Thinking and Moral Critique, Sonoma State Univ.

Die Tabellen zeigen uns, dass sich die von destruktiven Kulten aufgedrängte Pathologie des Denkens darauf beschränkt, die negativen Seiten des gewöhnlichen Denkens, an das die meisten Menschen gewohnt sind, zu verstärken. Die kognitive negative Auswirkung von Kulten ist im Wesentlichen krimineller Missbrauch von gewöhnlichem Denken und krimineller Gebrauch vieler Elemente des gewöhnlichen sozialen Einflusses.

Ungeachtet der Tatsache, dass oft von einem unberechtigten Rationalismus unserer Zeit gesprochen wird und über die Notwendigkeit, mit Leib und Seele zu leben – die Realität sieht doch etwas anders aus. Es ist kein Zufall, dass es die Kulte sind, die an das „Herz“ und nicht an die Vernunft appellieren, als solche hallen diese Spekulationen nur unter den Bedingungen eines signifikanten Mangels an echter Fähigkeit zur Vernunft wider. Die Sozialpsychologie hat weitgehend den Beweis erbracht, dass heutzutage eine Person in der absoluten Mehrzahl der Situationen von sozialen Reflexen und emotionalen Reaktionen geleitet wird, anstelle von echter Reflexion. In vielen normalen Situationen ist dieser Umstand relativ harmlos oder sogar unvermeidbar, er ist allerdings extrem gefährlich in Situationen der Aggressivität eines destruktiven Kults.

Einer der Haupterfolgsfaktoren destruktiver Kulte ist der Missbrauch des menschlichen Bedürfnisses nach Sicherheit, Eindeutigkeit und klaren Bezügen; des Bedürfnisses nach wenigstens täuschungsfreiem und einfachem Erkennen von Lügen, Gut und Böse. Das einzige Werkzeug der modernen menschlichen Gesellschaft zum Löschen des Durstes nach Bestimmtheit mit klaren Bezügen und zur gleichzeitigen Eindämmung der Gefahr, Täuschungen zu verfallen, ist kritisches Denken.

Die Existenz und der relative Erfolg destruktiver Kulte zeigen auf, dass die Welt eben nicht „viel zu vernünftig“ geworden ist (es sind die Kulte, die intensiv die „Befreiung des Geistes“ und „folgen Sie Ihren Gefühlen und Emotionen“ predigen), sondern vice versa hat sie noch nicht einmal die minimal erforderliche Fähigkeit zur Vernunft erreicht.

Folglich sollte das Problem des gesunden Denkens in Bezug zu destruktiven Kulten als Problem eines Mangels an dieser ultimativen Komponente moderner Kultur betrachtet werden. Was destruktive Kulte vorwiegend tun, ist nicht jemanden am kritischen Denken zu hindern (obwohl sie das auch tun), sondern eher dessen Nicht-Vorhandensein oder Schwäche auszunutzen. Das ist das Kernmerkmal des Umfeldes, in dem sie sich ausbreiten.

Wie in den Tabellen oben habe ich versucht, die wichtigsten anti-manipulativen sozialpsychologischen Fähigkeiten einer Person und ihre schwachen Seiten (Anfälligkeiten) zu vergleichen.

Vergleich anti-manipulativer Attribute (Fähigkeiten) mit pro-manipulativen Attributen (Anfälligkeiten) einer Person

Anti-manipulative Attribute (Fähigkeiten)

Pro-manipulative Attribute (anfällig für Manipulation, Anfälligkeiten)

Reflektivität (Reflexion)

Reflexivität (Reflex) (sozialer Automatismus)

Persönliche Autonomie

Konformismus

Konstruktive Anpassungsfähigkeit

Situativer Opportunismus

Fähigkeit zur objektiven Wahrnehmung

Subjektivität bei der Realitätswahrnehmung

Selbstkritik und allgemeine Kritikfähigkeit

Selbsttäuschung und Vertrauen (Glaube) in Täuschungen

Veränderung und Entwicklung

Stereotyp (Automatismus)

Flexibilität und Komplexität

Bedürfnis nach unzweideutiger Bestimmtheit

Unabhängigkeit (Selbstbestimmung)

Orientierung an einer Autorität

Konstruktives Umgehen mit Konflikten

Anpassung an das Verhalten der Mehrheit

Freiheit

Abhängigkeit

Die (in den drei Tabellen) konträren Züge des Denkens und menschlichen Verhaltens schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie zeigen verschiedene Seiten und verschiedene Ausprägungen von ein und demselben – eine kontroverse Person unter kontroversen Umständen. Es gibt kein Absolut Gut oder Absolut Böse auf der Welt; sie sind nur komplexe Kombinationen aus Verdiensten und Rückschlägen, die eine wirkliche (und in diesem Sinne – absolute) positive oder negative Bedeutung für eine bestimmte Situation haben. Genau wie all dies gibt es auch keine guten oder schlechten Züge menschlichen Denkens oder Verhaltens. Anzeichen eines unzulänglichen menschlichen Geistes sind zumeist lediglich unter bestimmten Umständen und in bestimmten Beziehungen unzulänglich, während sie in anderen weitgehend angemessen und berechtigt sein können. Diese Schwächen können als unvermeidbare Punkte angesehen werden, wenn es darum geht, die besten Qualitäten und Züge einer Person zum Vorschein zu bringen.

Eine solch integraler und gleichzeitig mehrfach-perspektivischer Blick, der komplexe Diskrepanz und heterogene Wechselbeziehungen einer realen Person mit einer realen Welt vereint, ist auch ein wichtiger Aspekt des gesunden Denkens. Es ist diese sehr künstliche und absolute Dichotomie von Gut und Böse, „gutes Ich“ und „böses Ich“, welche Tatsachen und Logik ignoriert, die für Joel Kramer und Diana Alstad – die Autoren von The Guru Papers: Masks of Authoritarian Power (Kramer, Joel and Alstad, Diana (1993). The Guru Papers: Masks of Authoritarian Power. North Atlantic Books/Frog Ltd., Berkeley, CA, 1993) – die Wurzeln von Autoritarismus und Guruismus hervorhebt. Ich stimme ziemlich vielen ihrer Annahmen zu.

Es ist nun an der Zeit, die Bildung von gesundem Selbstbewusstsein und Denken in so entscheidenden Bereichen wie dem der Erziehung zu untersuchen. Die zehn Jahre Recherchearbeit und aktive Praxis in der Hilfe für Opfer destruktiver Kulte (Sekten, Psychosekten, Psychokulte) sowie die Untersuchung von Überzeugungsprozessen (Propaganda) und diversen Manipulationen an der Psyche von Menschen haben mich zu der festen Auffassung gebracht, dass moderne Erziehung und Kultur (zumindest in Russland und dem Bund der Unabhängigen Staaten, und wie es scheint in allen hochentwickelten Ländern) den Bürgern nicht das erforderliche Wissen und die Fertigkeiten für eine sichere selbstbezogene Orientierung in der Gesellschaft vermitteln, die Formen von rascher Lebenshilfe ablehnt.

Höhere Schulbildung und Erziehung vermitteln nicht die allgemeinen und grundlegenden Fertigkeiten zum kritischen Denken, die sich mit der Vollständigkeit von Lese- und Schreibfähigkeit vergleichen lassen, während in der Tat die Bedeutung und Wichtigkeit solcher „Fertigkeiten“ in unserem Leben nicht geringer ist als die der Bildung. Die richtige Reflexion, sowohl technisch als auch im Wesentlichen, ist ein begrenzter fachlicher und spezialisierter Bereich, während die wissenschaftlichen Daten über wirklich anwendbare und praktische Merkmale der menschlichen Psyche das Feld einiger Fakultältsstudenten ist. In Russland zum Beispiel haben Studenten nur ein Semester lang Logikseminare (Schülern werden sie vorenthalten, obwohl paradoxerweise Logik zu Stalins Zeiten zu den obligatorischen Schulfächern gehörte), während das Thema sozialpsychologische Sicherheit überhaupt nicht gelehrt wird und nicht einmal in den Lehrplänen für angehende Psychologen aufgeführt ist. Im übrigen halte ich das Seminar über „Beeinflussung und psychologischer Missbrauch“ an der Nizhniy Novgorod-Universität nur aufgrund meiner eigenen Initiative.

Besonders anschaulich ist in dem Zusammenhang, dass in einem Land, das vorgibt, ein Beispiel für echte Demokratie zu sein, ich meine die USA, der Mangel an gesundem Denken bereits vor zwanzig Jahren von Fachleuten und besorgten Bürgern erkannt wurde. Seitdem wächst dort eine ziemlich mächtige und effiziente Bewegung für kritisches Denken. So weit ich weiß gibt es inzwischen in Westeuropa eine vergleichbare Bewegung.

Leider herrscht in den meistverbreiteten Ansätzen, kritisches Denken zu lehren, ein einseitiger logisch-intellektueller Aspekt vor, wenn solches extrem wichtiges sozialpsychologisches Wissen über den Menschen beiseite gelassen wird. (Zuallererst sind das die Daten über die Merkmale kognitiver Unvollkommenheit sowie über Macht und Mechanismen des Extra-Logischen; d.h. sozial, emotional, existenziell, Täuschung und Manipulation.) Dieses Wissen ist Schwerpunkt vieler Zweige der Sozialpsychologie und wird z.B. an amerikanischen Universitäten als „Psychologie der Beeinflussung“ oder „Sozialer Einfluss“ gelehrt. Die Seminare werden professionell von einem Team aus herausragenden amerikanischen Sozialpsychologen entwickelt.

Ich glaube, dass die Zusammenführung logisch-intellektueller und sozialpsychologischer Ansätze in diesem Fall einleuchtend ist, denn sie stellt eine wirklich vollständige Sammlung an Wissen und Fertigkeiten bereit, die ein gesundes Denken und eine gesunde Orientierung in der modernen Welt gewährleisten und die Menschen immun gegen manipulativen psychologischen Missbrauch machen würden. Zur Zeit arbeite ich gerade am Entwurf eines solchen synthetischen interdisziplinären Seminars für russische Studenten; und in Zusammenarbeit mit den ukrainischen Kollegen (mit der Family and Personality Protection Society, die ich hier als ihr Berater repräsentiere) entwickele ich ein ähnliches Programm für Pädagogen und Schüler. Wir haben außerdem vor, eine Reihe populärwissenschaftlicher Bücher zu schreiben und herauszugeben, um die Menschen auf diesem Gebiet aufzuklären.

In der Beratung der Opfer destruktiver Kulte gab es von Anfang an die Idee der intellektuellen und psychologischen Erziehung als Gegenstück zur Praxis des erzwungenen „Deprogrammierens“.

Mit freiwilliger Ausstiegsberatung (oder Beratung über psychische Manipulation) meine ich vorwiegend die amerikanischen Erfahrungen. Ich für meinen Teil plädiere für eine konsequentere und tiefergehende Umsetzung dieser Idee auf der Basis einer Zusammenführung des Potenzials der Bewegung für kritisches Denken mit den neuesten Errungenschaften der Sozialpsychologie. Wie die Praxis zeigt, können negative Informationen über destruktive Kulte, wie detailliert sie auch sein mögen, das Problem nicht lösen und sind auch nicht für alle effizient. Außerdem ist eine vollständige und unterstützende Rehabilitation von Opfern destruktiver Kulte nur möglich, wenn diese kritisches Denken und ein realistisches „Selbstbild“ in ihrer Psyche entwickeln können, dies ist nur mit dem hier aufgezeigten Ansatz möglich.

Aus meiner Beratungspraxis mit Kultopfern kann ich sagen, dass eine minimale Motivation zur gemeinsamen Arbeit seitens des Klienten sowie eine ausreichende Dauer und Intensität der Sitzungen einen brauchbaren Boden für gute und unterstützende Ergebnisse einer solchen sozialpsychologischen Erziehung bieten. Die Hauptideen dieses Vortrags sind im wesentlichen das Wissen, das ich an meine Klienten gebe, wenn ich mit ihnen arbeite und die Punkte diskutiere.

Um auf das Thema des indirekten Einflusses von gesundem Denken auf die körperliche Gesundheit und die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen zurück zu kommen, möchte ich eine interessante Tatsache mitteilen. Meine Zusammenarbeit mit russischen sozialen Organisationen, die eine gesunde Lebensweise propagieren und Menschen dabei helfen, das Rauchen und den Alkohol aufzugeben, hat ergeben, dass in den 1980ern sowohl in den USA als auch in der UDSSR sehr ähnliche Suchttherapien entwickelt wurden; ich meine Ausstiegsberatung bezüglich Kulten und die Gennady Schichko-Methode der Behandlung von Alkohol- und Nikotinabhängigkeit. Die reine Nennung der Übereinstimmungen und gemeinsamen Züge würde eine Menge Zeit kosten. Aber wirklich kurios ist, dass beide Methoden auf der Entwicklung kritischen Denkens basierten. Der einzige gemeinsame Nachteil beider Methoden ist die Ausrichtung des kritischen Denkens auf ein sehr begrenztes Gebiet oder Problem.

Abschließend möchte ich die Gedanken zusammenfassen, die ich mit einer für mich so wichtigen Zuhörerschaft teilen wollte.

Destruktive Kulte sind kein isoliertes Problem, das mit dem Einsatz isolierter Mittel gelöst werden sollte. Sie sind, wie jedes destruktive Phänomen, Indikatoren für weit tieferliegende Probleme der modernen Gesellschaft. Es ist deswegen nötig, sie mit sorgfältiger Erwägung und äußerster Vorsicht zu formulieren und zu lösen. Sie können den „Wachstumskrankheiten“ zugeordnet werden, wenn gewisse Disproportionen in der Entwicklung verschiedener Sub-Systeme eines so komplexen Systems wie Gesellschaft und Persönlichkeit in Erscheinung treten. Eine Person begegnet Problemen, mit denen sie nicht genügend Erfahrung und daher auch keine zuverlässigen und erprobten Fertigkeiten zu deren Lösung hat, noch hat sie spontan geformte oder bewusst gebildete kulturelle Mechanismen zu deren wirksamem Meistern und Bewältigen.

Die in diesem Vortrag beschriebenen drei Hauptprinzipien helfen uns, die Situation aufzudecken, kognitive und Systemfaktoren, die zugunsten von destruktiven Kulten agieren, genau wie die entsprechenden Richtungen von Fachkräften und gesellschaftlicher Aktivität auf dem Weg zur Lösung des Problems. Auf Seiten des Kults gibt es den Mangel an kognitiven Fertigkeiten, die für das neue Zeitalter notwendig sind; grundlegende kognitive Vulnerabilität; Instabilität der sozialen und individuellen psychologischen Systeme. Um die Gesundheit einer Person und der Gesellschaft zu gewährleisten, ist es notwendig, die Mängel in der intellektuell-vernünftigen Kultur der Gesellschaft zu beheben, die kognitive Vulnerabilität einer Person zu senken und die Kulte an ihrer schwächsten Stelle zu treffen – der Unfähigkeit, wirklich vernünftigem kritischen Denken auch nur irgendetwas entgegen zu setzen.

Die heutigen Errungenschaften auf dem Gebiet der Sozialpsychologie und im Vermitteln der Fertigkeiten zum kritischem Denken erlauben es uns, einen recht wirksamen präventiven Schutz vor dem Einfluss kriminell-manipulativer Gruppen zu organisieren und deren Opfern zu helfen.

Die Prinzipien und die Fertigkeiten kritischen Denkens zusammen mit einem angemessenen psychologischen Wissen über die realen Merkmale einer Person und sozialer Interaktion sind von solch universeller, einleuchtender und pragmatischer Natur, dass sie für die Bewältigung und das Meistern von jeglicher subjektiver Verzerrung und trügerischen ideologischen Barrieren einen festen Boden bieten.

Marseille, März 2004