Daniel GRUNWALD

FRANKREICH

Daniel GRUNWALD

– Arzt
– Emeritierter Generalsekretär des Conseil national de l’Ordre des Médecins (Vorstand derArztekammer)
– Mitglied des Orientierungsrats der Mission Interministérielle de Vigilance et de Lutte contre les Dérives Sectaires (MIVILUDES) (Interministeriellen Mission zur Überwachung und Bekämpfung sektiererischer Auswüchse (MIVILUDES), frz. Regierungsorganisation

Die Französische Ärztekammer zu sektiererischen Bewegungen
und ihre Haltung zu deren medizinisch ungesicherten Praktiken

In der gegenwärtigen Gesellschaft durchdringen die verschiedenen Formen der Sekten unser soziales Leben, als beunruhigendes Zeichen der Ungesichertheit unserer modernen Welt.

Davon ist auch der Gesundheitsbereich nicht ausgeschlossen, sondern ganz im Gegenteil:

  • die laufende Ausweitung der Verwendung von Gesundheitsthemen und der verschiedensten therapeutischen Methoden durch Sektenbewegungen,
  • ihr öffentliches Auftreten, ihre Verbreitung und sogar Verharmlosung in den Medien,
  • ihre Propagierung selbst innerhalb des Gesundheitswesens, was durchaus geeignet ist, auch Ärzte und anderes Gesundheitspersonal zu verunsichern,

werfen eine Reihe von Fragen auf.

Der Ordre des Médecins ist eine private Vereinigung von niedergelassenen Ärzten, die von ihren Kollegen gewählt wurden. Sie wurde vom Staat mit der Aufgabe betraut, eine Service-Stelle mit administrativen und juristischen Funktionen für die ausübenden Praktiker einzurichten.

Deshalb begann der Ordre des Médecins Français vor einigen Jahren , sich mit den komplexen Beziehungen zwischen den Sekten und den medizinischen Praktiken zu beschäftigen.

Verschiedene Entwicklungen, die im Laufe der Zeit an den Sekten beobachtet wurden, haben uns zunehmend veranlasst, diese Überlegungen in den viel größeren Rahmen der immer komplexer werdenden Verschachtelungen zwischen den «sektiererischen Auswüchsen» und der Vereinnahmung des «Gesundheitswesens » im weitesten Sinn ein zu beziehen.

Wir wollen daher zunächst besonderes Augenmerk auf die beobachteten Entwicklungen in jenen Fällen legen, wo schädliche sektiererische Praktiken als Gesundheitspflege ausgegeben werden, und sodann die Einstellung des Ordre des Médecins dazu erörtern.

Die beobachteten Fakten

  1. Das Eindringen sektiererischer Auswüchse in medizinische Bereiche

    Beobachtungen aus den letzten Jahren erlauben deutlich verschiedene Entwicklungen aufzudecken, wo sich schädliche sektiererische Auswüchse in das Gesundheitswesen eingeschlichen haben.

    • Eine Angebotserweiterung in der Tätigkeit der Sekten

      Der Zugang zum Phänomen der Sekten wurde in Frankreich erleichtert durch verschiedene Untersuchungen, mehrere parlamentarische Berichte, die Gründung einer Beobachtungsstelle, schließlich die Gründung einer Interministeriellen Mission zur Bekämpfung der Sekten, und vor kurzem die Errichtung einer « Interministeriellen Mission zur Überwachung und Bekämpfung sektiererischer Auswüchse » (November 2002).

      • Man kennt die Schwierigkeiten der Definition und Erkennung sektiererischer Auswüchse; wichtig für unsere Arbeit ist, in den Strukturen mit exklusiver ideologischer Basis jene Fakten aufzudecken und heraus zu streichen, welche ihre Schädlichkeit für die Personen, die in ihrer physischen und psychischen Integrität verletzt werden, entlarven; man versucht die Verhaltenseigenheiten zu analysieren und das Augenmerk auf Schäden zu lenken, die für solche «schädlichen sektiererischen Auswüchse» charakteristisch sind.
      • Die Themen der Gesundheit haben bei den verschiedensten Gruppen von Sekten immer eine Rolle gespielt. Heiler-Gruppen und psychoanalytische Bewegungen, deren Aktivitäten sich oft quer durch Scheinfirmen, ja sogar gänzlich unproblematisch erscheinende Behandlungszentren ausbreiten, wurden identifiziert.
      • Die allgemeinen Entwicklungstendenzen , die im Rahmen des Gesundheitswesens an Strukturen mit schädlichem Sektencharakter beobachtet worden sind, kann man mit den folgenden Themen umschreiben :
        • starke Zunahme von Sektenaktivitäten im sogenannten « psychotherapeutischen » Bereich;
        • Vervielfachung von Aktivitäten, die auf Techniken beruhen, die aus transformierten « östlichen » Konzepten hervorgegangen sind;
        • Entwicklung von « Behandlungen », die sich auf die rational nicht erfassbaren Themen der Entwicklung und Stärkung des Individuums konzentrieren;
        • Eindringen in professionelle Organisationen und Ausbildungsstätten mit Hilfe von Scheinfirmen, um an alle mit der Gesundheitspflege Befaßten heranzukommen;
        • Manchmal werden Sekteneinflüsse bei humanitären Bewegungen beobachtet, z.B. bei gewissen Krankenpflegediensten oder Katastrophen-Hilfsorganisationen;

      Diese verschiedenen Beispiele zeigen sehr gut, wie die Sekten versuchen, auf allen Gebieten der medizinischen Versorgung zu agieren.

      Sie illustrieren zugleich eine sehr viel allgemeinere Problematik der Vermehrung der Aktionen mit Sektencharakter im Gesundheitswesen:

      • wenn einige dieser Strategien sich immer auf die Übernahme von Krankenpflege und Betreuung quasi-pathologischer Probleme konzentrieren,
      • so tauchen darüber hinaus in zunehmendem Maße viel weiter gefaßte Themen auf, nicht nur der Erhaltung, sondern auch der Entfaltung der Gesundheit, der Wellness, der physischen und mentalen Fähigkeiten, oder der Stärkung der Persönlichkeit, quer durch esoterische, pseudo-kosmologische und pseudo-religiöse Ideologien.

      Und so wird diese Ausweitung der sektenabhängigen Organisationen auf Themen der Gesundheit immer klarer, indem sie ganz bewußt die Begriffe « Gesundheit » und « Krankheit » verkomplizieren und in den Augen ihrer Anhänger deren Bezug zu Gesundheit und Krankheit verändern.

      Man darf auch die starken internationalen Beziehungen der Sekten nicht vergessen, die eine Zusammenarbeit der verschiedenen Länder, die mit Sektenproblemen konfrontiert sind, immer mehr rechtfertigen.

  2. Die Entwicklung der Strukturen von Sekten
      • die Aktivitäten der großen Gruppen « klassischer » Sekten auf nationaler und internationaler Ebene dauern an, ja einige davon zeigen gewisse Tendenzen zur Radikalisierung.
      • Immer öfter gesellen sich assoziierte Gruppen mit eingeschränkter Zugehörigkeit dazu, die, um einen « begleitenden Guru –Therapeuten » geschart, manchmal für sich allein operieren (aber oft nach einer kostspieligen « Ausbildung », die von einer zentralen Stelle aus vorgeschrieben wird).

    Und so unterscheidet heute im Sektenbereich vieles die absolut « klassischen » Sekten vom Sektierertum verschiedener eher diffuser Gruppen und Grüppchen, die man immer öfter beobachtet und die weniger leicht greifbar sind. Auf dem Gebiet der Beziehungen zur Gesundheit und der ärztlichen Praxis ist diese Unterscheidung auch gut angebracht, denn sie erlaubt es, die große Variabilität der durch die Sekten entstandenen Probleme genauer zu erfassen. Es ist zu betonen, daß man jede Vermischung vermeiden muß: Jede sektiererische Bewegung unterscheidet sich von den anderen und verlangt eine spezifische Untersuchung. Wenn also viele sektiererische Bewegungen versuchen, ihren Einfluß auszuweiten, indem sie sich der alternativen Medizinen und manchmal auch der Fachleute im Gesundheitswesen bedienen, so wird dieses Eindringen in Abhängigkeit von den angestrebten Zielen sehr verschieden sein.

  3. Die Benutzung der verschiedenen «Medizinen»

    Zwei Tendenzen charakterisieren die Verbindungen zwischen den Praktiken der Sekten und der Medizin: Einerseits Kritik und Opposition gegen die «moderne, offizielle» , die sog. Schulmedizin, besonders von Seiten der «therapeutischen» Sektenbewegungen, die mit der « westlichen » Medizin in Konkurrenz treten; andererseits, aber manchmal eng damit verbunden, werden Behandlungen und therapeutische Anwendungen präsentiert als « nicht offizielle » Medizin aus alter oder mystischer Tradition, hervorgegangen aus alten Kulturen oder auf esoterischer Basis.

    Hier finden wir tatsächlich den Zusammenhang mit vielen Heilmethoden, die « sanft, alternativ, komplementär und unkonventionell » genannt werden, die wir aber lieber als « ungesicherte medizinische Praktiken »bezeichnen wollen. Der gemeinsame Nenner all dieser alternativen Therapiemethoden besteht darin, dass eine authentische wissenschaftlich anerkannte Validierung und Evaluation fehlt. Das Feld dieser « ungesicherten medizinischen Praktiken » ist sehr weit und vielgestaltig; es reicht von medizinischen Praktiken, die nach dem Bürgerrecht anerkannt sind, bis zu – im Einzelfall – total irrationalen und esoterischen Behandlungsmethoden. Die von den Sekten bevorzugten « Behandlungsarten », getragen von den Sektenideologien, berufen sich gerne auf die oben genannten extremen Kategorien der esoterischen therapeutischen Theorien, aber sie können auch Aktivitäten entsprechen, die auf einem modifizierten wissenschaftlichen Konzept aufbauen, oder auf erprobten Therapien, die verändert und adaptiert wurden. (Beispiele: verschiedene Zweige der Diät) .

    Das Ineinandergreifen der Maßnahmen der Sekten und der « nicht anerkannten » alternativen Therapiemethoden ist nicht leicht zu durchschauen, denn die Ähnlichkeit der Form und Darstellung darf nicht über die Unterschiede der Gründe und besonders der Zwecke hinweg täuschen:

    Schematisch (und historisch) gesehen erscheinen die « ungesicherten medizinischen Methoden » und die Sektenpraktiken tatsächlich verschieden:

    • die unkonventionellen Medizinen wollen einzig und allein Krankheiten heilen oder pathologische Probleme lösen; sie werden von « Therapeuten » ohne andres angegebenes Ziel verwendet.
    • Im Gegensatz dazu konzentrieren sich Sekten mit schädlichen Nebenwirkungen auf Personen, die nicht unbedingt krank sind, sondern die kein Gehör finden, die « Aufmerksamkeit » erregen wollen und denen sehr schnell eine Zwangs- Ideologie aufgedrängt wird, mit der Folge des Verlustes von sozialen Bindungen. Diese scharen sich als hierarchisch geordnete Gruppe um einen Guru und sind weniger auf die Gesundheit als auf Entfaltung und Wohlbefinden oder auf pseudoreligiöse und pseudo-kosmologische Ziele ausgerichtet.

    Aber tatsächlich ist alles in Wirklichkeit viel nuancierter: Man trifft auf Sekten, die sich nur unter dem Mäntelchen der « Medizin » präsentieren, und dabei das Vertrauenspotential ausnützen, das viele unbewußt in die neuen Formen von sehr kleinen sektiererischen Gruppen setzen. Dazu kommt die Tendenz gewisser Therapeuten mit alternativen Therapiemethoden, Gruppen von Patienten zu bilden und sich dabei nicht nur um die Behandlung von Krankheiten, sondern darum zu kümmern, daß Gesundheit und Wohlbefinden wieder zurückkehren oder aufrecht erhalten werden! Es existieren also in Wirklichkeit viele mögliche Zwischenstufen.

    Diese verschiedenen Tatsachen führen uns zu einer Strategie, wie wir die Unterscheidung zwischen ungesicherten medizinischen Praktiken und Praktiken der Sekten in unserer Analyse aufrecht erhalten können: wir versuchen alle Vermischungen zu vermeiden, indem wir in jeder konkreten Situation vor allem die Art und den eventuellen Grad einer für den Patienten «schädlichen» Praktik präzisieren; aber man muß sich auch vergegenwärtigen, daß sich hinter gewissen atypischen « Medizinen » schädliche sektiererische Absichten verbergen können. Natürlich sind nicht alle ungesicherten medizinischen Praktiken zu den Sekten zu rechnen, aber die Sektenbewegungen präsentieren sich oft und gerne als « Medizinen ».

    Man kann auf der anderen Seite bemerken, daß es oft derselbe Typ Patient ist, – ja sogar mit derselben Sensibilität, die auch bei Fachleuten des Gesundheitswesens zu finden ist, – der von esoterischen alternativen Medizinen und auch Sektenideen fasziniert ist. Dabei soll nicht verheimlicht werden, daß Scharlatanerie und finanzieller Appetit der «Pfleger» oft sehr nah beisammen liegen.

  4. Sektenagitatoren im Gesundheitswesen.

    Vielgestaltige Sekten, die «Medizin» als Aushängeschild verwenden, führen zu einem dritten Aspekt der gegebenen Situation, der zu analysieren ist: Jenem der Teilnehmer an derartigen sektenähnlichen Aktivitäten, einschließlich derer aus dem Gesundheitsbereich. Das berechtigt den Ordre de Médecine, in diesem Bereich aktiv zu werden.

    • Die Hauptakteure, verantwortlich für die «therapeutischen» Aktivitäten von vielen Sektengruppen, bleiben im wesentlichen die selbstgraduierten und selbsternannten «inspirierten Proselyten». In gewissen Fällen können ihre Praktiken illegalen Therapieversuchen der Medizin entsprechen (im Fall der Diagnose, die der angewendeten Therapie vorangeht.) Der Umstand, daß diese Proselyten Titel in Anspruch nehmen, ähnlich den Titeln authentischer professioneller Ärzte oder noch mehr, die Erfindung und Verwendung von Bezeichnungen, die nur auf die Ähnlichkeit mit Pflegefunktionen ausgerichtet sind, stellen eine Täuschung der Personen dar, die sich ihnen anvertrauen.
    • Ärzte und anderes medizinisches Personal

      Einige Ärzte wurden im Zuge einiger ebenso auffälligen wie bedauerlichen Affären angeklagt, sich fallweise sogar aktiv an den Machenschaften von sektiererischen Bewegungen zu beteiligen. Das ist eine heikle Materie, denn neben konkreten Affären, die dokumentiert und sanktioniert wurden, gibt es viele hochgespielte Fälle, mit Gerüchten, die von einer leidenschaftlichen Atmosphäre umgeben sind, die ihre objektive Beurteilung erschwert. Selbstverständlich ist es keine Frage, daß man die Meinungsfreiheit und Glaubensfreiheit für alle Bürger – die Ärzte natürlich eingeschlossen – garantieren muß, aber man sollte gegebenenfalls wenigstens die für Patienten schädlichen Unterschiede zwischen einer ärztlichen Maßnahme und der verwerflichen Aktivität der Sekten beachten.

      So können praktische Ärzte von schwachem Charakter, die sich gegenüber dem Elend und dem Tod hilflos fühlen, durch die Freundlichkeit einer «mitfühlenden» Gruppe verführt werden, bevor sie von einer Sekte angeworben werden….. und man weiß sehr gut, wie sehr bestimmte sektiererische Bewegungen die Teilnahme (und Bürgschaft) von Ärzten suchen.

      Leider wird in manchen Fällen der verführte Arzt aktiv, indem er die Aura seines Erfolges nützt, um neue Anwärter für die Sekte heranzulocken : sympathisierender Arzt, schließlich Anwerber bei seinen Patienten – Berater von gewissen Sektengruppen bestätigen die Qualität der vorgeschlagenen esoterischen «Behandlung». Derartige Fälle sind glücklicherweise nicht sehr häufig, aber beweiskräftige Beispiele sind bezeugt. Außerdem muß man immer wieder darauf verweisen, daß sich aus Mangel an Information (und Kritikvermögen) zahlreiche Ärzte durch Berichte über pseudowissenschaftliche Behandlungen, die durch Sekten verbreitet werden, mißbrauchen lassen. Sie geraten in Gefahr, deren Anhänger zu werden, ohne es, zumindest am Anfang, zu wissen. Nur wenn solche Praktiken über längere Zeit hin angewendet werden, wie Werbung für die Sekten durch Ärzte, liegt die allgemeine Vermutung nahe, daß die aktive Beteiligung von ihnen selbst ausgegangen sei, entweder im Rahmen von «Heiler»- Bewegungen, oder auf eigene Initiative.

      In solchen Situationen wird die genaue Arbeitsweise der Ärzte in ihren Verschreibungen und Begründungen abzuwägen sein. Bei der Verwendung von gewissen ungesicherten medizinischen Therapiemethoden, ohne Verdacht auf Sektierertum, wird man die Art ihres Gebrauchs beachten: sind sie als Ersatz für eine erprobte Behandlung nach dem Stand der Wissenschaft verschrieben worden, oder mit einem rein kurpfuscherischen Ziel, wodurch manchmal richtiggehend eingebildete Krankheiten entstehen, so ist dies in hohem Maß zu verurteilen. Diese Situationen unterscheiden sich von der eventuell umsichtigen Verwendung von unkonventionellen Medizinen, sog. komplementären Therapien. Diese werden ohne Gefährdung der Patienten, komplementär zu den erprobten Behandlungen, in bestimmten Fällen und nach eingehender Information des Patienten angewendet. Sie haben kein anderes Ziel als die bestmögliche Behandlung, darin inkludiert auch die Erforschung eines Placebo-Effekts. Wenn dagegen mit Verschreibungen sektenähnliche Tätigkeiten oder sektiererisches Verhalten verbunden sind, wird sich diese Behandlung möglicherweise als für den Patienten schädlich und daher verwerflich und abnormal herausstellen.

      Diese Überlegungen betreffen vor allem die Ärzte angesichts ihrer Funktion als Verschreiber von Medikamenten und ihrer besonderen Verantwortung. Aber von der Versuchung und der Werbung für Sekten ist in der Tat das ganze Gesundheitswesen betroffen: Zahnmediziner und paramedizinische Berufsgruppen, die manchmal auf irrationale Argumente leichter hereinfallen, (wie etwa gewisse Heilgymnastiker, Hebammen, Krankenpfleger, auch Sozialarbeiter). Diese Berufe könnten leichter durch Kontakte zu Gruppen betroffen sein, die von sektiererischen Ideologien beeinflußt sind. Als Beispiel seien die aktuellen Probleme angeführt, die durch bestimmte Bewegungen entstehen, welche rund um Schwangerschaft und Geburt Schulungen mit sektiererischen Nebengedanken entwickeln.

    • Die Patienten

      Angesichts der Komplexität der Gesellschaft muß man bei mehr oder weniger freiwilligen Aufnahmekandidaten einige Fragen erörtern:

      • Bestimmte Persönlichkeitsprofile oder Lebenssituationen machen – ebenso wie bestimmte pathologische Voraussetzungen – besonders anfällig für Propaganda oder Werbung durch Sekten. Ein erfahrener Arzt sollte eventuell mit seinen Patienten darüber sprechen. Andererseits ist die Behandlung von Patienten, die aus Sekten ausgetreten sind, oft sehr schwierig, da sie Beratung und spezielle Behandlungsmethoden verlangt.
      • Oft ist auch das Umfeld der Kranken mitbetroffen: wenn z.B. ein Zeuge der Anwerbung seiner Eltern durch eine Sekte hilflos oder wütend gegenübersteht; manchmal ist auch die Verwandtschaft durch bestimmte Gruppierungen beunruhigt.
      • Aber auch die Patienten (manchmal auch ihre Familien!) können von sich aus «Wunderheilungen» verlangen, von denen sie durch Reklame oder Mundpropaganda gehört haben!
      • Es gibt viele Situationen, die das Verhältnis Arzt- Patient kompliziert machen, und die genaue Informationen erfordern. Diese müssen immer wieder von Hausärzten den Familien gegeben werden, im Bewußtsein, daß dabei bestimmte Ausrichtungen oder Glaubenshaltungen der Kranken oder ihrer Familien große Probleme hervorrufen können. Erinnern wir in diesem Zusammenhang an die sehr spezifische Fragestellung, die durch manche erwachsenen Patienten aufgeworfen wurde, die sogar bei zwingenden Indikationen jede Art der Bluttransfusion verweigert und damit ihr unmittelbares Überleben auf Spiel gesetzt haben.

Die Haltung des Ordre des Médecins

Wenn unsere Überlegungen auch nur auf Gutachten und Berichten über sektiererische Tätigkeiten einerseits und das Gesundheitswesen andererseits beschränkt sind, so ist die Materie doch sehr weit und komplex und Quelle verschiedenster Fragestellungen und zahlreicher Schwierigkeiten in der Praxis.
« Zur Kenntnis nehmen – Durchdenken – Handeln » ist der Leitspruch eines professionellen Vorgehens, eingeführt, um Stellung zu den durch Sekteneinfluß abweichenden Behandlungspraktiken nehmen zu können.

  1. Analyse der derzeitigen Situation

    Angesichts der Informationen oder Klagen, die von Patienten oder deren Familien oder von verschiedenen öffentlichen Organisationen und Vereinigungen kommen, die mit dem Kampf gegen schädliche sektiererische Bewegungen konfrontiert sind, ist es ein Gebot der Stunde, die sektiererischen Bewegungen, ihre Entwicklung, ihre immer komplexeren Wechselbeziehungen mit der Gesundheitspflege und möglicherweise mit den medizinischen Praktiken zu analysieren.

    Dieses Vorgehen muß allerdings den vorhandenen Schwierigkeiten angemessen sein, um sie überwinden zu können, und das sind die unterschiedlichen Erscheinungsformen und die laufende Veränderungen der diversen sektenartigen Bewegungen, die emotional aufgeladene Atmosphäre, in der die Berichte der Sektenopfer oder ihrer Familien oft gegeben werden, die Notwendigkeit, nur über genügend dokumentierte Fälle zu sprechen, ebenso wie genau zu unterscheiden zwischen üblichem medizinischen Handeln und den Meinungen eines Arztes, was nicht immer einfach ist . Denn in gewissen Fällen kann die Verwendung des Arzt-Titels strafwürdige Taten gutheißen und selbst in seinen persönlichen Stellungnahmen bleibt ein Arzt gegenüber Dritten ein « Arzt ».

    Eine Bewertung der Qualität von gewissen Praktiken und ärztlichen Verschreibungen kann, wie wir gesehen haben, schwierig sein und man wird sie zunächst aus der Sicht der Patienten zu beurteilen haben: Haben sie von der Behandlung des Arztes, die ihrem Zustand entsprechend notwendig und berechtigt war, Nutzen gehabt? Hat es Täuschung gegeben? Kurpfuscherei? Kann man schädliche oder gefährliche Behandlungen oder Verschreibungen vorwerfen?

    Dies betrifft das Verhalten von Ärzten gegenüber ihren Patienten, wenn es unter dem bestimmenden Einfluß einer Sekte abnormal verändert ist, ebenso wie der Gebrauch von bestimmten ungesicherten Heilmethoden zu beurteilen ist.

  2. Juristischer ZugangDieser kann auf verschiedenen Niveaus geschehen:
    • Das Problem der verwerflichen Aktivitäten der Sekten betrifft in Frankreich vorwiegend das Straf- und Zivilrecht, das die ärgsten Vorkommnisse behandeln muß.
    • Die fachliche Rechtsprechung des Ordre des Médecins hat nur in den Fällen einzuschreiten, wo mit dem Code de Déontologie médical [Code der medizinischen Berufsethik] nicht konforme Praktiken von Ärzten vorkommen. Zahlreiche Artikel dieses Codes beziehen sich auf die betreffende Fälle. Der Arzt muß wirklich unter allen Umständen die Prinzipien der Moral, der Redlichkeit und der Hingabe an die Ausübung der Medizin respektieren. Niemals darf der Arzt eine korrekte, aufmerksame Haltung und Respekt gegenüber der behandelten Person vermissen lassen; diese Bestimmungen gehören übrigens zum Artikel 3 der Prinzipien der Europäischen Medizinischen Ethik (herausgegeben vom ständigen Komitee der Europäischen Ärzte) die uns hier sehr passend erscheinen: « Der Arzt vermeide es in der Ausübung seines Berufes, seinen Patienten seine persönliche Meinung, seine Auffassung von Philosophie, Moral oder Politik aufzudrängen » Der Artikel 5 des Code Français de Déontologie médical bestimmt, dass der Arzt « in keiner wie immer gearteten Weise seine berufliche Unabhängigkeit aufgeben darf ».
      In der Praxis betreffen die von der Disziplinarkammer des Ordre des Médecins erlassenen Bescheide sehr oft die Verletzung des Artikels 39 des Code de Déontologie: « Die Ärzte dürfen einem Kranken oder seinen Angehörigen ein Heilmittel oder eine Behandlung, die nur vorgetäuscht oder ungenügend erprobt sind, nicht als heilsam und ungefährlich vorschlagen. Jede Kurpfuscherei ist verboten ». Auch der Artikel 40 charakterisiert die gefährlichen Therapien: « In den Untersuchungen und Behandlungen, die der Arzt vornimmt und verschreibt, darf er für den Patienten kein ungerechtfertigtes Risiko eingehen ».
      Aber andererseits können betroffen sein: Die Komplizenschaft eines Arztes mit einer illegalen Medizinausübung, eine Einmischung in Familienangelegenheiten, die Nicht-Respektierung von Maßnahmen, die den Schutz von Minderjährigen gewährleisten, ebenso wie der Schutz von «allen Personen, die wegen ihres Alters oder wegen ihres physischen oder psychischen Zustandes nicht in der Lage sind, sich selbst zu schützen». In diesen Fällen muß der Arzt «außer bei besonderen Umständen …. die richterlichen, medizinischen oder verwaltungstechnischen Autoritäten warnen.» Diese besonderen Situationen sind im Code de déontologie médicale français vorgesehen, die die Richtlinien des Strafkodex ergänzen.
    • Nur in erwiesenen Fällen, die gegen den Codex de Déontologie verstoßen und nachweislich schädlich für die Patienten sind, kann die Kammergerichtsbarkeit befasst werden.
    • Die Analyse der Klagen, die wegen schädlicher medizinischer Praktiken von Sekten bei den ordentlichen Gerichten eingebracht wurden, zeigt zwei Merkmale:
      • Die Klagen sind nicht sehr häufig, sie kommen selten von den Opfern selbst, viel öfter wurden Informationen durch ihre Umgebung zusammen getragen (wenn diese Klagen berechtigt und bewiesen sind, kann der Ordre des Médecins die Ärzte direkt zur Verantwortung ziehen)
      • Sie sind im allgemeinen sehr ungenau, aber oft besorgniserregend, da sie einer durch die Ideologie der betreffenden Sekte begründeten Systematisierung der strafbaren Praktiken entsprechen. Wenn solche Fälle erwiesen sind, werden sie mit disziplinären Sanktionen und meistens mit einem zeitlichen oder unbegrenzten Berufsverbot bestraft.
    • Damit vergleichbar unterliegen auch die anderen Pflegeberufe (Zahnärzte, Hebammen, Apotheker und Heilgymnastiker) einer spezifischen professionellen Gerichtsbarkeit.
  3. Information des medizinischen Personals

    Diese Überlegungen erklären, warum wir auf ausreichende Information der Ärzte (und aller im Gesundheitsbereich Arbeitenden) im Hinblick auf die Sekten und die Gefahren, die von ihnen ausgehen, solches Gewicht legen:

    • Allgemeine Informationen in Form von Artikeln im Bulletin des Ordre national des Médecins, die sich an alle ausübenden praktischen Ärzte wenden.
    • Gezielte Informationen zu speziellen Fällen : wenn es sich etwa um aktuelle, aber unbestätigte Fälle handelt oder um «Gerüchte», die eine Untersuchung rechtfertigen, die eine Klarstellung ermöglicht, und wenn nötig, eine Beobachtung von Ärzten, was sehr oft vorbeugende Wirkung hat.

    Mit einem allgemeinen Informationsblatt über die Existenz der Sekten, wie sie wirklich agieren, über ihre Verhältnis zu gewisser Werbung für nicht geprüfte medizinische Behandlungsmethoden zu informieren, erweist sich als unbestreitbar nützlich, und man kann feststellen, daß die Ärzte über die Risken, die davon ausgehen, daß sich die Sekten in das Gesundheitswesen hineingedrängt haben, jetzt viel besser informiert sind.

  4. Teilnahme an Aktionen der Behörden
    • Im Rahmen seiner Aufgaben wird der Ordre des Médecins regelmäßig vom Gesundheitsministerium um Stellungnahmen ersucht. Er ist im Schoß des Orientationskomitees der interministeriellen Missionen vertreten, die den Sektenphänomenen gewidmet sind: Der «Interministeriellen Mission für den Kampf gegen Sekten», die seit ihrer Konstitution Anfang 2003 «Interministerielle Kommission für die Überwachung und Bekämpfung sektiererischer Auswüchse» (MIVILUDES) heißt. In diesen Organismen sind verschiedene Verwaltungen, Vereinigungen und betroffenen Strukturen vertreten – was ja sein Hauptzweck ist.
    • Das französische Parlament hat am 12.06.2001 ein Gesetz beschlossen, « das die Vorbeugung gegen und die Unterdrückung von Sektenbewegungen zu verstärken versucht, die die Menschenrechte und die Grundfreiheiten bedrohen ». Dieser Text, den man unter anderem auf die sektenähnlichen Vereinigungen im Bereich der Gesundheitspflege anwenden kann, sieht in seinem Wortlaut , «die Auflösung aller juristischen Personen vor, die das Ziel oder das Ergebnis haben … die psychische oder physische Unterwerfung von Personen zu erreichen.» (Artikel 1); die Ausweitung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von juristischen Personen für gewisse Übertretungen (Kap II); Maßnahmen, um die Werbung von Sektenbewegungen einzuschränken (Kap IV); und besonders, was unser Anliegen betrifft, im Kapitel V, Maßnahmen zur Verhinderung betrügerischen Mißbrauchs des Nichtwissens oder der Schwachheit eines Minderjährigen, oder einer Person, die auf Grund ihres Alters, einer Krankheit, einer Behinderung, eines physischen oder psychischen Defizits oder einer Schwangerschaft offensichtlich anfälliger ist, oder einer Person im Zustand psychologischer oder physischer Abhängigkeit, verursacht durch schwere oder wiederholte Unterdrucksetzung, oder durch Techniken zur Veränderung ihrer Urteilskraft, um diesen Minderjährigen oder diese Person zu einer Tat oder einer Verzichtleistung zu bringen, die schwer zu ihrem Nachteil gereicht.«
    • In ihrem kürzlich veröffentlichten Jahresbericht 2003 hat MIVILUDES nach einer Ausweitung des Konzepts «Sektiererische Auswüchse» verschiedene Vorschläge präsentiert, die unter anderem Themen der Gesundheit umfassen:
      • Der Wunsch, der Situation von Opfern, deren Schwachheit ausgenützt wurde oder die psychologischem oder physischem Druck ausgesetzt waren, wirksamer (und leichter) entsprechen zu können;
      • ein Vorschlag, die Generaldirektion für das Gesundheitswesen und die Berufsvereinigung der Gesundheitsberufe mögen Empfehlungen für gute Heilmethoden öffentlich bekannt machen;
      • Eine stärkere Verbreitung der Richtlinien bezüglich der verpflichtenden Impfungen und ebenso einer Information betreffend die Verweigerung von Bluttransfusion.
  5. spezielle Fragestellungen

    Im weiten Bereich der Beziehungen zwischen der Gesundheit und der sektiererischen Unternehmungen bleiben noch einige spezifische Probleme zu behandeln:

    • Die Träger von Medizinischen Diplomen
      Besonders unter den verschiedenen « Gesundheitsberufen » ist es wichtig zu beachten, daß ihre Titel und Bezeichnungen geregelt und definiert sind und daß ihre Verwendung nur professionell Ausübenden zusteht, deren qualitätvolle Ausbildung geprüft ist. Daneben existiert eine nebulose Schicht von «Fachleuten», deren Qualifikation und Kompetenzbereich sich vom Ehrenhaften, Anerkannten und Nützlichen bis zu Titelträgern ohne Garantie erstreckt. Für jene, die sie konsultieren, verursachen sie Verwirrung und falsche Garantie, und dies wird oftmals ganz bewußt in Strukturen mit schädlichem, sektenhaften Charakter aufrecht erhalten. Es wäre wünschenswert, zur Information der Bevölkerung eine Klärung der dubiosen Titelträger vorzunehmen.
    • Trügerische Werbungen:
      Ebenso aufklärungswürdig wären bestimmte Werbungen, in denen die betrügerischen « Wunderbehandlungen » mit pseudowissenschaftlichen Argumenten gepriesen werden.
    • Verweigerung von Behandlungen aufgrund von Sektenideologien, z.B. Impfungen.
      Einige Sekten kämpfen gegen die « offizielle wissenschaftliche » Medizin indem sie die obligatorischen Impfungen, deren Wirkung doch gesichert ist, ablehnen. Das bringt manche Sektenanhänger dazu, von ihrem Hausarzt illegale Zertifikate zu verlangen, daß bei ihnen die Impfung kontraindiziert sei. Gewisse gleichgesinnte Praktiker erstellen dann «Gefälligkeitsgutachten» und werden bestraft, wenn sie « auffliegen ».
      Es ist im Gegenteil Pflicht des Arztes, in diesem Fall seine Patienten über die Wichtigkeit der zeitgerechten Impfungen aufzuklären, um ihr Einverständnis für diese präventiven Maßnahmen zu erlangen.
    • Der besondere Fall der Verweigerung von Bluttransfusionen
      Diese Frage ist durch die in den letzten Jahren aufgetretenen Fälle aktuell geworden, in denen die Injektion von Blutderivaten verweigert wurde, obwohl man dadurch die Überlebenschance des betroffenen Patienten aufs Spiel gesetzt hat. Trotz der Bemühungen der Ärzte wurde für diese unerlässlichen und dringenden Maßnahmen keine Einwilligung gegeben.
      Wenn es sich bei diesen Patienten um Erwachsene handelt (denn die Behandlung von Minderjährigen muß auf Basis der speziellen gesetzlichen Auflagen abgewickelt werden ), gibt es für den Arzt zwei zwingende gesetzliche Vorgaben, die er auf einen Nenner bringen muß: Einerseits die Berücksichtigung des Willens des Patienten, andererseits unverzichtbare lebensrettende Therapien, die seiner Verpflichtung, Personen in Gefahr zu helfen, entsprechen. Verschiedene Rechtsprechungen der letzten Zeit haben die juristische Realität dieses Dilemmas und die Verpflichtung, den Willen des Patienten zu respektieren, bestätigt. Nur in extremen Situationen, wenn das Leben auf dem Spiel steht, ist es erlaubt, entgegen der ursprünglichen Weigerung des Patienten die für sein Überleben unerlässlichen Massnahmen zu ergreifen.
      In solchen Situationen kann die Verantwortung der Angehörigen eine große Rolle spielen, wenn sie trotz seiner Weigerung den vorgeschlagenen medizinischen Schritten zustimmen.

* * *

Das Eindringen schädlicher sektiererische Auswüchse in das Gesundheitswesen erscheint letztendlich um so besorgniserregender, als es immer heimtückischer wird und sowohl die Fortschritte als auch die Unsicherheiten unserer modernen Welt ausnützt. Parallel zu vielen anderen soziologischen Erwägungen sind zugleich zwei Tatsachen auf dem Gebiet der «Gesundheit» wichtig:

  • Die neuen Möglichkeiten der Krankenpflege, die erst seit einigen Jahren außer Streit stehen, haben unbestreitbar Fortschritt durch die Klarstellung von wissenschaftlichen Regeln und Präventivmaßnahmen für Volksgesundheit und Gesundheitsvorsorge im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der Sanitätsausbildung gebracht, der alle Ärzte nur zustimmen können.
  • Aber diese noblen Ziele werden durch ihre Popularisierung sehr verwässert, sie erzeugen manchmal bei der Bevölkerung wahre Wahnvorstellungen in der Suche nach einer künstlichen Entwicklung des Wohlbefindens, der physischen und psychischen Erfüllung und persönlichen Leistungsfähigkeit. Dies machen sich die Sektenbewegungen, wie auch gewisse nichtkonventionelle und nicht erprobte Richtungen der Medizin zu nutze.

Es scheint uns daher immer unverzichtbarer, die Konsequenzen und die Entwicklung dieses gravierenden gesellschaftlichen Phänomens der sektiererischen Tätigkeiten für die Volksgesundheit bestmöglich abzuschätzen und alle jene gründlich zu informieren, die damit konfrontiert werden können.

Marseilles, März 2004