Lugosi

Die fundamentalen Freiheiten und das Sektenwesen

von

Victor LUGOSI

Kossuth Klub, Budapest

Als ich vor einigen Monaten von Herrn Alain Vivien die ehrenvolle Einladung erhielt, bei „Europäischen Kolloquium über das Sektenwesen“ zu sprechen und ein Exposé über Die fundamentalen Freiheiten und das Sektenwesen zu halten – und dies unter den Rednern als einziger Vertreter aus dem östlichen Mitteleuropa -, erlebte ich das zweifache Gefühl der Befriedigung und der Verlegenheit. Befriedigung, weil ich der Meinung bin, daß im Herzen dieser wichtigen gesellschaftlichen Erscheinung, die wir in diesem Kolloquium ansprechen und die sowohl auf dem Niveau des täglichen Gespräches wie auch in der hohen Sphäre der Diplomatie so viele Diskussionen hervorruft, es tatsächlich die fundamentalen Freiheiten sind, die Menschenrechte, die auf dem Spiel stehen und die unsere gemeinsame Überlegung verdienen. Aber ich fühle auch Verlegenheit, denn ich bin nicht als Jurist ausgebildet – ich bin Historiker -, ich muß mich also etwas zurückhalten, wenn ich mich über eine Frage der juristischen Theorie äußere, die so komplex ist wie die Menschenrechte und auch so „heiß“ wie die der religiösen Sekten.

Mit Rücksicht auf die – notwendigerweise begrenzte – verfügbare Zeit meines Beitrages will ich vorschlagen, meine Ideen in einigen kurz kommentierten Thesen zu formulieren, die ich versuche in einer eher klaren oder sogar vereinfachten Weise vorzutragen, um die Diskussion darüber besser zu beleben.

Meine ersten Bemerkungen beziehen sich auf die speziellen Bedingungen des mittleren und östlichen Europa, wo sich die Problematik der Sekten stellt: ein Gebiet, das in sozialer Hinsicht ziemlich verschieden vom glücklicheren – westlichen – Teil des Kontinentes ist, denn deren Kenntnis ist zum Verständnis des Konfliktes notwendig, der durch das Sektenwesen in unserer Region entstand.

1. Der erste zu erwähnende Faktor ist die besondere verfassungsmäßige Situation, in der – unter anderem – sich der Streit über die Sekten abspielt. Die neuen demokratischen Systeme in diesen Ländern – zehn Jahre nach dem Wechsel des politischen Regimes – sind tatsächlich mehr oder weniger „unvollkommen“. Die staatlichen Rechtsinstitutionen sind fragil, die politische Einstellungen und Verhaltensweisen der Protagonisten des politischen Lebens – einerseits der Bürger, der Parteien und anderer politischer oder ziviler Organisationen, andererseits der verschiedenen Instanzen des Staates selbst – sind noch instabil. Wenn die juristische Grundlage jeder Aktion gegen das Sektenwesen in den säkularen westlichen Demokratien schon schwierig ist, so ist es umso delikater und oft peinlicher, in diesem Sinn in unseren Ländern zu handeln, wo sogar die Achtung der grundlegendsten Freiheiten sich nicht immer als evident erweist.

2. Die zweite Besonderheit der Erscheinung und der Gegenwart des Sektenphänomens im zentralen und östlichen Europa ist die „Überpolitisierung“ des Problems. Das in Erscheinung-Treten aller Arten von Religionen, Kulten und Glaubensrichtungen nach 1989-90 hat die Gesellschaft des ehemaligen Sowjetblocks tatsächlich geschockt. Die positive kollektive Erfahrung der grundlegenden Freiheiten – wie der Versammlungs- und Vereinsfreiheit, des freien Redens und Schreibens, usw. -, ging Hand in Hand mit der Traumatisierung durch negative Effekte des Mißbrauchs im Laufe der Handhabung eben dieser Freiheiten. Die ersten demokratisch gewählten Parlamente der Region – von Ländern, die während 40 oder 70 Jahren mehr oder weniger ideologisch geschlossen waren – erwiesen sich als unfähig, der Herausforderung durch die Sektenfrage standzuhalten, wie es ja auch bei anderen sozialen Problemen der Fall war.

Das Beispiel Ungarns und Rußlands – zweier nach ihrer Größe und nach ihrer kulturellen und religiösen Tradition völlig verschiedener Länder – zeigt wohl den Grad der Ratlosigkeit.

In Ungarn eskalierten die Debatten über das Sektenwesen in den Medien – zunächst gleichzeitig hervorgerufen durch das Auftreten einer neupfingstlerischen Gemeinschaft amerikanischer Provenienz und einer christlichen, strengen und fundamentalistischen Sekte örtlichen Ursprungs – sehr schnell auf dem Feld politischer, ja sogar parlamentarischer Streitigkeiten, obwohl die streitenden Parteien praktisch keine genauen Informationen über den Streitgegenstand hatten. Seit 1991-92 wurde die Sektenfrage vom politischen Standpunkt aus polarisiert und so die eigentliche Streitfrage verfälscht. Einerseits wurde die Kritik an den Sekten und der Kampf gegen sie auf gewisse Weise das privilegierte Terrain der politischen Kräfte der konservativen und christlichen Rechten, die an der Macht war und die andererseits wiederum von der liberalen Opposition angeklagt wurde, entsäkularisierende Absichten zu haben. Diese letzteren – ihren orthodoxen und doktrinären liberalen Überzeugungen folgend und im Namen der Verteidigung der gerade erlangten Gewissensfreiheit – verneinten klar und einfach die Existenz der Sektenfrage und froren – nach den gesetzgebenden Wahlen 1994, die sie gemeinsam mit der sozialistisch- exkommunistischen Partei gewonnen hatten – die Frage einfach ein, indem sie sich jeder Änderung des Konfessionsgesetzes widersetzten.

Die Situation ist auch durch den Umstand kompliziert, daß die erwähnten liberalen Kräfte tatsächlich den harten Kern der Opposition während der kommunistischen Zeit gebildet hatten. Sie hatten auch unbestreitbare Verdienste im Kampf für die Menschenrechte und spielten in der öffentlichen Meinung die Rolle einer offensichtlichen moralischen Autorität.

3. Die ambivalente Rolle der großen historischen Kirchen – besonders der katholischen – erleichterte auch nicht gerade die Klarsicht in den Debatten über die Sekten. Diese Kirchen, die während der Jahrzehnte der kommunistischen Herrschaft weithin korrumpiert und intellektuell stark geschwächt wurden, versuchten nach 1989, um ihre spirituelle und organisatorische Schwäche zu kompensieren, ihre soziale Position wieder zu stärken, indem sie sich um die Gunst und Unterstützung des Staates bewarben und versuchten, die Konkurrenz auszuschalten, die sich durch das Anwachsen der neuen religiösen Bewegungen ergab. Deshalb wurden auch das politisch-soziale Umfeld des Auftretens letzterer und so die Aktionen gegen sektiererische Phänomene – bis zum heutigen Tage – durch die „Vergeltungsaktionen“ der großen Kirchen erschwert und oft auch sogar zu gefährlichen Zeichen eines Wunsches nach Entsäkularisierung.

Das Beispiel – oder die Beispiele – Rußlands sind noch spektakulärer – oder erschreckender. Sie wurden durch die östlichen Medien ausführlich beschrieben und kommentiert, vor allem wegen des Skandals der japanischen Sekte AUM, welcher es – während der ersten Hälfte der Neunzigerjahre – gelang, die höchsten Stellen des russischen Staates zu infiltrieren. Das Verhalten der Russisch-Orthodoxen Kirche anläßlich des berühmten Prozesses von Moskau im Mai 1997 – bei dem sich einerseits der Direktor des Zentrums St. Irenäus von Lyon, Alexander Dvorkin, und das orthodoxe Patriarchat von Moskau, andererseits die „Viererbande“ (Scientology, ISKON, die Moon-Kirche und die Zeugen Jehovas) gegenüberstanden -, zeigt ebenso wie der juristisch-politische Kampf um das neue Gewissens-Gesetz die Zweideutigkeit der Rolle des orthodoxen Klerus innerhalb der neuen religiösen Phänomene und des Sektenwesens. Ähnliche Beispiele könnten aus anderen Ländern der Region (Slowakei, Kroatien, Rumänien, Ukraine usw.) erwähnt werden.

Alle jene, die sich also entschlossen haben, gegen das Sektenwesen in Mittel- und Osteuropa vorzugehen, sind gezwungen, einen Kampf an zwei Fronten zu führen: das freiheitstötende Verhalten der Sekten und die entsäkularisierenden Absichten der kirchlich-politischen konservativen oder rückschrittlichen Kräfte aufzuzeigen und anzuprangern, und gleichzeitig die Werte der demokratischen Verwandlung dieser Länder zu verteidigen: die Gewissensfreiheit und das Recht der freien kultischen Vereinigung. Aber – darauf muß man hinweisen – erklären und feststellen ist die eine Sache – handeln und etwas tun ist eine andere …

4. Gemäß dem erfolgreichen und fruchtbaren Topos des französischen Soziologen slowakischer Herkunft Karel Vasak können die Menschenrechte in drei verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Diese stellen drei Rechtsgenerationen dar, die drei verschiedenen historischen Epochen der Entwicklung der modernen Gesellschaft während der letzten zwei Jahrhunderte entsprechen.

Dem zufolge sind die erste Generation der Freiheiten die Rechte, welche in der Epoche der bürgerlichen Revolutionen – und dank ihnen – erreicht wurden, vor allem in der französischen Revolution und durch die berühmte Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Diese Rechte sind, per Definition, individuelle Rechte, das heißt, Rechte, die einerseits die persönliche Autonomie des Menschen gegenüber der Staatsgewalt – das Verbot der Einmischung des Staates in die interne Sphäre des bürgerlichen Individuums, andererseits das Recht der Teilnahme desselben an der öffentlichen Verwaltung und seine Kontrolle über die Staatsgewalt, sicherstellen..

Die zweite Generation der Menschenrechte, die aus den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten bestehen, sind historisch das Ergebnis einer langen Entwicklung, die durch soziale Kämpfe der europäischen Gemeinschaften gekennzeichnet ist. Ihre Anerkennung – in Europa zunächst in der Verfassung der Weimarer Republik, dann in einer allgemeineren Form nach dem zweiten Weltkrieg – verdanken wir sozialistischen Bewegungen und dem historischen Kompromiß zwischen Kapital und Arbeit, dessen positive Wirkungen sich im Wohlfahrtsstaat der europäischen Demokratien in den Jahre nach dem Krieg zeigten und aufblühten.

Seit dem Beginn der Sechzigerjahre – der Zeit der politischen Emanzipation der Dritten Welt – gibt es auch eine dritte Generation der Menschenrechte, formuliert und betrachtet – von Karel Vasak und von vielen anderen Theoretikern – als Rechte der Solidarität. Es handelt sich um Rechte, die sich angesichts der globalen Probleme als das Recht auf Frieden, auf eine gesunde Umwelt, auf wirtschaftliche Entwicklung, auf humanitäre Unterstützung (oder negativ formuliert: gegen die wirtschaftliche Ungleichheit von Nord und Süd), auf die persönliche Selbstbestimmung oder, neuerdings das Recht auf Gemeinbesitz der Menschheit – genetisch, in Bezug auf kulturelle Tradition, in Bezug auf den kosmischen Raum usw., darstellen.

Die Beziehungen dieser drei Kategorien der Menschenrechte sind zweifach.

Zuerst einmal bilden diese Rechte in unteilbares Ganzes, dessen Elemente – die einzelnen Befugnisse – seien es nun die Rechte der ersten, der zweiten oder der dritten Generation – einander gegenseitig voraussetzen. Wenn wir zum Beispiel das Wahlrecht hernehmen – eine der ganz grundsätzlichen politischen Freiheiten -, dann ist es augenscheinlich, daß dieses Recht zu einem fiktiven und brüchigen wird, wenn der Wahlberechtigte nicht das Niveau grundlegender Instruktionen besitzt, das heißt, wenn er nicht am Recht an Bildung teilnehmen kann, einem der fundamentalen Rechte der zweiten Generation der Freiheiten. Aber man kann leicht einsehen, daß sogar auch dieses Wahlrecht unsicher wird, wenn die politische Wahl des Bürgers durch manipulatorische Effekte dieser oder jener Druck ausübenden Gruppe, die eine dominante – politische oder wirtschaftliche – Position in der Gesellschaft hat, beschränkt und systematisch hintertrieben wird

Dennoch schließt die Einheit der Menschenrechte einen möglichen und wirklichen Konflikt eben dieser Rechte nicht aus. Damit sie dem Interesse des Einzelnen und des Kollektivs umso besser dienen, können oder sollen die Menschenrechte – oder bestimmte Elemente dieser Rechte – in einem gegebenen Fall beschränkt werden. Die sozialen Rechte – und die ganze Umverteilerrolle des Staates – sind schließlich nichts anderes als eine Beschränkung der Eigentumsrechte, welche von der liberalen oder neoliberalen Orthodoxie als sakrosankt betrachtet werden. Analog dazu könnte ebenso die Gewissensfreiheit – theoretisch – ihre Grenzen haben, wenn sie mit der einen oder der anderen Freiheit in Widerspruch gerät.

Meiner Meinung nach – und das ist die wesentliche These meines Vortrags – sollte die soziale Aktion gegen die Sekten juristisch darauf begründet sein, daß man sie in die kollektiven Rechte der dritten Generation der Menschenrechte einordnet. Das Recht des Bürgers, sich individuell oder kollektiv gegen manipulatorische Absichten – politische, wirtschaftliche oder religiöse – zu verteidigen, gehört zum Recht auf freie Information und Kommunikation und das der kulturellen Selbstidentifikation, die alle Freiheiten des Typs der dritten Generation sind.

Wenn der juristische Bereich der Beziehungen des Sektenwesens und der Menschenrechte auf das Gebiet der individuellen Freiheiten beschränkt bleibt – das heißt auf die Kategorie der Freiheiten der ersten Generation der Menschenrechte -, dann läßt man sich von einer Falle fangen, aus der man kaum wieder herauskommt. Das heißt, daß, ausgenommen bei physischer Grausamkeit im engeren Sinn – die man noch dazu in jeden Fall hinreichend beweisen muß -, der Erwachsene, der in die Falle einer Sekte geraten ist, – ebenso wie ein Alkoholiker oder Drogensüchtiger – wider seinen Willen nicht gerettet werden kann. Wenn die Abhängigkeit der Person von seiner Sektengemeinschaft hinreichend stark ist, hat praktisch niemand die legalen Mittel, sie herauszubringen. Aber ebenso wie im Fall der Drogenabhängigkeit ist das Aktionsfeld der Staatsgewalt die Vorbeugung. Außerdem berauben wir, wenn wir in der Dimension der Rechte der ersten Generation verbleiben, das Problem seines realen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhanges, welcher die globalisierte Welt von heute ist, das „globale Dorf“. Eine der Charakteristiken des Sektenwesens ist, wie man weiß, gerade seine Übernationalität. Die Macht der mächtigsten Sekten beruht auf ihrer multinationalen Verwurzelung und Organisation. Der Schutz der Freiheiten, die durch die Expansion der Sekten gefährdet sind, hebt so die Kompetenz der internationalen Organisationen hervor, in Europa Instanzen wie der Europarat oder das europäische Parlament.