Oeschger
Annelise Oeschger, Ehrenpräsidentin der INGO-Konferenz des Europarats:
Das Thema der Konferenz gibt uns die Möglichkeit, über eine der heikelsten Fragen nachzudenken, die sich in einer Demokratie stellen: die Beschränkung der Freiheit um der Freiheit willen.
Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit garantiert, sowie die verwandten Artikel 10, die Freiheit der Meinungsäußerung, und Artikel 11, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, erlauben dem Staat diese Einschränkung ausdrücklich „zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“.
Dies als Vertreterin von Nichtregierungsorganisationen festzustellen, ist zuerst einmal hart, beruhen die Aktionsmöglichkeiten der NGOs doch auf der Garantie eben dieser Freiheiten und sind diese Freiheiten, zusammen mit den anderen Menschenrechten, auch der Hauptgrund für das Engagement von Menschen in NGOs. Aber Freiheit und Engagement sind nicht möglich ohne Verantwortung. Engagement entbindet nicht von der Pflicht, hinzuschauen, zu differenzieren und dann auch Stellung zu beziehen.
In Bezug auf die Gefahren, die von destruktiven Kulten ausgehen, konnte die INGO-Konferenz des Europarats dies tun, dank FECRIS und ihrer Vertreterin im Europarat, Frau Danièle Muller-Tulli. Das Hauptergebnis des Studientags vom 28. Juni 2007 zu diesem Thema war eindeutig und ich habe es am 28. Januar dieses Jahres bei meiner Abschiedsrede als Präsidentin der INGO-Konferenz auch nochmals klar ausgesprochen: Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass sich totalitäre Organisationen, die die fundamentalen Freiheiten missbrauchen, auf eben diese Freiheiten berufen, um ihre anti-demokratischen und menschenrechtsverletzenden Praktiken schützen zu lassen. Die starken Reaktionen auf diesen Studientag haben gezeigt, dass wir da in ein Wespennest gestochen haben und in dieser Richtung weiterarbeiten müssen.
Der Europarat mit seinen 47 Mitgliedsstaaten, der in Europa die Standards für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit setzt, ist für das Anliegen des Schutzes von Individuen, Gruppen und Staaten vor dem Wirken destruktiver Kulte die wichtigste Adresse. Die Entscheide seines Gerichtshofs für Menschenrechte sind für die Staaten bindend. In seiner Parlamentarischen Versammlung ringen Vertreter der 47 nationalen Parlamente um gemeinsame Positionen in heiklen gesellschaftlichen Fragen wie zum Beispiel Bioethik, Frauen und Religionen, Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte. Die Botschafter der 47 europäischen Mitgliedsländer sind direkt ansprechbar. Die Konferenz der INGO des Europarats ist in den wichtigen Ausschüssen vertreten und ihr Einfluss wird zunehmend stärker. Um die europaweite Ausdehnung der Aktivitäten von destruktiven Sekten einzudämmen und zu überwinden ist die aktive Präsenz von FECRIS im Europarat unabdingbar. Dies auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Vertreter und Sympathisanten von totalitären Organisationen im OSZE-Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) in Warschau besonders aktiv tätig sind und auch den Europarat beeinflussen wollen. Die Kommission für Menschenrechte der INGO-Konferenz hat eine Arbeitsgruppe „Menschenrechte und Religionen“ gegründet, die sich auch mit den so genannten „neuen Religionen“ wird befassen müssen, dabei wird der Beitrag von FECRIS natürlich entscheidend sein.
Damit sich die Verwaltungsbehörden und Gerichte in den einzelnen Staaten von totalitären Organisationen nicht missbrauchen lassen, braucht es eine aufgeklärte und wachsame internationale, nationale und lokale Zivilgesellschaft. Und eine solche braucht es auch, damit die schützenden Maßnahmen des Staates nicht ihrerseits totalitär werden. Wir wissen es alle, viele Personen und Organisationen haben die Tendenz, ihre Überzeugungen als die einzig vernünftigen und tolerablen anzusehen. Es ist verlockend, die Machtinstrumente, die einem zur Verfügung stehen, dazu zu verwenden, diese Überzeugungen auch durchzusetzen. Gerade bei Gesetzen, die die Aktivitäten von NGOs regeln, ist diese Gefahr groß. Deshalb verweise ich hier auf die Empfehlung 14(2007) des Ministerkomitees des Europarats zum rechtlichen Status von NGOs in Europa, die die Rechte und Pflichten von NGOs ausführlich darstellt und den Mindeststandard für jede rechtliche Regelung setzt. So sind zum Beispiel Generalverdächtigungen und allgemein gefasste Staatsschutzbestimmungen nicht zulässig.
Der Staat steht also vor einem Dilemma: die Freiheit schützen und gleichzeitig ihren Missbrauch verhindern – und dies als Dauerauftrag. Gelingen kann ihm dies nur, wenn er Öffentlichkeit herstellt, die Problematik darstellt und das Dilemma ausspricht. Demokratie braucht Lernprozesse und damit solche möglich werden, müssen die Menschen mit echten Fragen konfrontiert werden. Die Sektenfrage ist eine solche Frage und sie betrifft die ganze Bevölkerung. In den Ländern, in denen dies noch nicht geschehen ist, sollte möglichst rasch ein öffentlicher Dialog drüber initiiert werden. Die Menschen sollen sich der Fragen, der verschiedenen Ansichten und der verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten bewusst werden, sie sollen die Schwierigkeit politischen Handelns entdecken, zusammen nachdenken und sich dann ein Urteil bilden. So wird die Bekämpfung des Totalitären zu einer Schule der Freiheit und Verantwortung – und nicht zu einer Zementierung eben dessen, was man überwinden möchte. Was wir als NGOs letztendlich fördern wollen, ist die Anerkennung der Kostbarkeit jedes einzelnen Menschen und die Entdeckung des Glücks, in Freiheit füreinander Sorge zu tragen. In diesem Sinn wünsche ich uns eine konstruktive Tagung.