Linda Dubrow-Marshall

PROBLEME FÜR FAMILIEN

 

Linda Dubrow-Marshall, Psychologin, Vorsitzende von RETIRN[1],

Gastprofessorin an der Universität von Glamorgan, Großbritannien

 

Ich möchte Ihnen danken, dass Sie mir die Gelegenheit geben, heute zu Ihnen über die Probleme zu sprechen, die sich für Familien ergeben, wenn sich ein Mitglied in einer destruktiven Sekte / einem Kult / einer extremistischen Gruppe / einer Gruppe mit hohen Anforderungen befindet, oder in einer Beziehung steht, in welcher die Person ungebührlichen Einfluss und zwanghafte Überredung erleidet. Ich wurde ursprünglich an der Arbeit mit diesen Leuten durch mein Interesse am Holocaust und an der Frage interessiert, welche Faktoren normale Menschen veranlassen können, unter bestimmten Umständen, einschließlich Gruppendruck, Grausamkeiten zu begehen, die sich einzeln und unter normalen Umständen nicht dazu entschieden hätten. In meiner früheren Tätigkeit führte ich psychologische Forschung über Gruppendruck durch, der zum Ausdruck von Voreingenommenheit anderen gegenüber führte. Ich erfuhr, dass Gruppendruck einen signifikanten Einfluss auf Leute hatte, Vorurteilen zu äußern, auch wenn sie nicht wirklich an diese Vorurteile glaubten.

Als ich von der Tätigkeit einer Studentin der Beratungspsychologie zur Tätigkeit einer beglaubigten Beratungspsychologin und Psychotherapeutin fortgeschritten war, entschied ich, meine klinischen und beratungstechnischen Fähigkeiten zu verwenden, um Einzelpersonen und Familien zu helfen, die von destruktiven Kulten betroffen waren. 1983, als ich in den Vereinigten Staaten war, wurde ich Mitbegründerin von RETIRN, dem Re-entry Therapy Information and Referral Network, einer spezialisierten privaten Praxis von Fachleuten für mentale Gesundheit, die dazu angelegt war, Leuten zu helfen, die durch ungebührlichen Einfluss und Kulte betroffen waren. 2004 übersiedelte ich nach Großbritannien, um dort mit meinem Mann Professor Rod Dubrow-Marshall zu leben, einem Sozialpsychologen, der sich mit der Forschung über Kulte und der Supervision und Beratung bei der Forschung über die Psychologie von Kulten befasst hatte und der Leitung von FAIR in England und der Generalversammlung der FECRIS als Vertreter von FAIR zur Verfügung stand. Rod und ich gründeten 2004 RETIRN/UK, und 2006 übersiedelten wir nach Wales, wo sich nun das Hauptquartier von RETIRN/UK befindet. RETIRN/UK ist Korrespondent von FECRIS.

Auf persönlicher Ebene war ich stets durch die Schwierigkeiten von Familien bewegt, die sich auf ein ihnen vorher typischer Weise unbekanntes Territorium gestoßen fühlten – eine Welt hoher Anforderungen, Gruppen unter hohem Druck und Kulte mit ausgeklügelten Beeinflussungstechniken, welche die Persönlichkeit und das Verhalten ihrer Angehörigen signifikant verändert hatten, wenn sie einmal darin involviert waren. Diese Familien erfuhren enorme emotionale Leiden und Ängste und litten sehr viel infolge dessen, was ihren Angehörigen zustieß, die normalerweise ihren Familien immer mehr entfremdet wurden. Ich und ebenso meine Kollegen bei RETIRN wurden motiviert, diesen Familien zu helfen.

Obwohl ich in diese Arbeit ursprünglich durch meine Forschungsinteressen und nicht durch persönliche oder familiäre Verstrickung in eine kultartige Gruppe hineingekommen war, blieb ich in meinem persönlichen Leben von diesem Phänomen nicht unberührt. Es gab Bemühungen, mich für einige Kulte zu rekrutieren, und ihn habe Freunde und Verwandte, die sich Kulten anschlossen. Gewiss habe ich die offenbar universelle Erfahrung geteilt, von anderen Leuten und Gruppen betrogen, ausgenützt uns geschädigt zu werden.

Die ergreifendste Geschichte, die ich Ihnen mitteilen kann, ist die, was mit meinem Vater geschah, bei dem im vorgerückten Alter eine möglicherweise kritische Krankheit diagnostiziert wurde und wodurch er für ungebührlichen Einfluss empfänglich wurde. Er entwickelte eine kultartige Beziehung zu einer Gruppe von Leuten, die nicht an traditionelle Heilbehandlung glaubten und die ihn dazu drängten, einen extremen alternativen Lebensstil anzunehmen, angeblich um seine Gesundheit zu erhalten. Dieser Lebensstil war tatsächlich gefährlich und begann, seine Gesundheit zu untergraben, und ich bat ihn, die Angelegenheit vernünftig zu betrachten, aber er war unfähig, mir zuzuhören. Ich werde es niemals vergessen, als er zu mir sagte: „Ich weiß, dass ich in einem Kult bin, Linda, und dass du dich damit befasst, aber bitte lass mich damit allein“. Ich versuchte, andere Familienmitglieder einzubeziehen, mir zu helfen, meinen Vater zu überreden, seine Tätigkeit zu überdenken, aber sie zögerten angesichts der Unerbittlichkeit meines Vaters bezüglich seines Verhaltens. Endlich gelang es mir, einen Anwalt dazu zu bewegen, sich an die Gruppe zu wenden und darauf zu bestehen, dass mein Vater sich auf Wunsch der Familie einer medizinischen Untersuchung unterzog. Da fürchtete die Gruppe offenbar, dass gegen sie mit Rechtsmitteln vorgegangen werden könnte, sie betrachteten meinen Vater als mögliches Risiko und warfen ihn hinaus. Mein Vater fand eine moderatere Gruppe, die einige alternative medizinische Techniken benützten, seine Gesundheit besserte sich und meine Familie hatte für seine restlichen Jahre eine verbesserte Beziehung zu ihm, wofür ich sehr dankbar bin. Natürlich war die Handlungsweise des Kultes meines Vaters, dass sie ihn nach dem Erhalts des Anwaltsbriefes hinauswarfen, nachdem sie zuerst intensive Fürsorge versprochen hatten, typisch für das, was wir oft in Kulten sehen – wo die Pseudo-Intimität und das Love-Bombing in einer Gruppe nur eine Technik sind, um die Leute unter Druck zu setzen, und nicht mit der tatsächlichen Fürsorge von Familienmitgliedern und Freunden verglichen werden kann. Die Bemerkung meines Vater zu mir illustriert auch das allgemeine Problem, dass es nicht genug ist, jemandem zu sagen, er sei in einem Kult, um ihm herauszuhelfen, obwohl viele Familienmitglieder gedacht hatten, dies allein würde helfen.

Wie Sie sehen können, verstehe ich auf einer tiefen persönlichen Ebene, dass niemand immun gegenüber Kulten ist, weder als Einzelner noch als Mitglied einer Familie. Ich fühle mich dadurch bevorzugt, dass Familienmitglieder mir und meinen Kollegen vertraut haben, dass ich ihnen helfen kann, wenn sie von Kulten betroffen sind, und ich habe von den Familien, mit denen ich gearbeitet habe, eine Menge gelernt.

Wenn sich Familien an RETIRN wenden, dann fühlen sie sich vielleicht ganz allein und von anderen Leuten entfremdet. Oft haben sie niemals jemanden gekannt, der mit einem Kult zu tun hatte. Sie haben vielleicht niemals etwas über die Gruppe oder über missbrauchende Einzelpersonen gehört, mit denen ihr Angehöriger sich eingelassen hat. Es könnte eine wohlbekannte Gruppe sein, aber es könnte auch eine unbekannte Gruppe sein, oder die Gruppe könnte ihren Namen und ihren Ort viele Male gewechselt haben, wie es bei „Heaven’s Gate“ der Fall war. Neulich erfuhr ich, dass ein Angehöriger einer Person, die bei der „Family of God“ gewesen war, mir wegen meiner Tätigkeit bei der „American Family Foundation“ nicht vertraute, die nun in „International Cultic Studies Association“ umbenannt wurde, weil er fürchtete, die „American Family Foundation“ sei bloß ein anderer Name der „Family of God“.

Familien mögen in Verlegenheit sein oder sich schämen, anderen Leuten wie Arbeitskollegen, Freunden, Nachbarn oder entfernten Verwandten zu erzählen, was passiert ist. Das ist Teil der Ursache, warum Familienmitglieder glauben mögen, sie hätten nie eine Familie gekannt, die durch Kulte betroffen war, während dies jedoch der Fall ist, weil die anderen Familien nicht bereit waren, darüber zu sprechen. Es ist völlig verständlich, dass Familien zögern, über ihre Probleme mit Kulten zu sprechen, da sie die ersten sind, die durch über Kulte uninformierte Leute für die Verwicklung ihrer Angehörigen darin beschuldigt werden. Dies vermehrt nur das Leid dieser Familien. Kultverteidiger neigen dazu, individuelle Faktoren mentaler Gesundheit und Familienprobleme für die Verstrickung eines Mitgliedes in einer destruktiven Gruppe verantwortlich zu machen. Solche Familien für die Empfänglichkeit für die Verwicklung in Kulte verantwortlich zu machen bedeutet das Ausmaß des Problems zu leugnen und es falschen Ursachen zuzuordnen.

Auch ohne Anstoß von außen machen Familien oft den Fehler, sich selbst wegen der Kultverstrickung zu beschuldigen, in ähnlicher Weise wie Leute bei sich die Ursache für andere schmerzliche Erscheinungen suchen, zum Bespiel warum ihr Angehöriger Krebs oder eine Herzkrankheit bekam oder eine Scheidung oder einen Abortus erlitt. Hätten sie mehr tun sollen? Hätten sie weniger tun sollen? Hätten sie etwas anderes tun sollen? Hätten sie nur früher etwas gesagt – hätte sie nur etwas Spezielles gesagt – wären sie nur religiöser oder wohlhabender oder gebildeter – irgendeiner dieser Gedanken kann einem Familienmitglied durch den Kopf gehen. In der Vergangenheit wurde es Müttern zum Vorwurf gemacht, wenn ihre Kinder schizophren wurden, und dafür gab es sogar einen Namen – die „schizophrogene Mutter“. Nun werden die komplizierten etiologischen Faktoren, welche zur Entwicklung von Schizophrenie beitragen, einschließlich physischer und genetischer Faktoren, über die man keine Kontrolle hat, besser gewürdigt. Aber ich höre noch immer Leute über „kultogene“ Mütter und Väter sprechen, und das ist sehr schmerzhaft, irregeleitet und beschämend.

Daher ist die richtige Psycho-Erziehung über die Psychologie der Kult-Rekrutierung eine sehr wichtige Aufgabe für Familien, einschließlich der Besonderheiten des Kultes, in dem sich ihr Familienmitglied befindet, und die Bedeutung des unglücklichen Zufalls – zur falschen Zeit am falschen Platz zu sein – als Faktor, der zur Verstrickung in Kulte führt. Nicht alle Psychotherapeuten sind in der Lage, diese Art von Dienst ihren Klienten zu bieten, denn sie haben keine Ausbildung zum Verständnis der sozialpsychologischen Kräfte erhalten, die normale Leute veranlassen, sich destruktiven Gruppen anzuschließen. Tatsächlich sind Psychotherapeuten gegen solche Gruppen nicht immun. Ich kannte ein ganzes Beratungsteam, das in eine gefährliche pseudotherapeutische Gruppe geworben wurde, und ich kannte einen Mitarbeiter eines universitären Beratungszentrums, der sich mit einem psychotherapeutischen Kult einließ und seine Klienten an der Universität dorthin rekrutierte. Unterstützungsgruppen für Familien von Kultangehörigen, wie die „Family Support Group“ in London, veranlassen oft qualifizierte Fachleute, zu Familien zu sprechen, und helfen mit, die Scham zu vertreiben, die einzelne Familien fühlen, indem sie ihnen die Gelegenheit bieten, andere ähnlich betroffene Familien kennen zu lernen und ihre Erfahrungen zu normalisieren. Es gibt viele solche Gruppen, die solche Dienste anbieten, einschließlich FAIR in England, die International Cultic Studies Association mit ihrem Hauptquartier in den USA, und FECRIS und ihre angeschlossenen Organisationen.

Das Internet hat einen bedeutenden Einfluss auf die Verfügbarkeit von Informationen über Kulte, allgemein und bezüglich spezieller Gruppen. Die Organisationen, die ich genannt habe, veröffentlichen verlässliche Information, und irgendwie ist es für Familien viel leichter, innerhalb der Privatsphäre ihrer Wohnung etwas über das Kultproblem zu erfahren. Die Kulte haben ihre eigenen Websites und es ist of sehr nützlich zu sehen, was sie über sich selbst sagen. Es gibt jedoch im Internet auch Falschinformation über Kulte, und es ist wichtig, die dort erhaltene Information mittels anderer Quellen zu überprüfen und nicht alles nach oberflächlichem Ansehen zu akzeptieren.

Familien benötigen genaue Information, um die Situation zu verstehen zu beginnen und sich auf eine Intervention vorzubereiten, wenn eine solche sinnvoll ist. Zusätzlich zu einer aktuellen Information über die spezielle Gruppe möchte ich die Notwendigkeit von Wissen über die Psychologie der Sektenrekrutierung, des ungebührlichen Einflusses und der zwanghaften Überredung betonen, um Familien zu helfen zu verstehen, was ihr Mitglied erlebt hat, aber auch Einsicht über ihre eigenen emotionellen Erfahrungen zu gewinnen. Es ist wichtig, den Ärger über das Kultmitglied zu entschärfen, indem man das Verstehen kultiviert, wie die Gruppe ihre Anhänger manipuliert, und dabei dem Ärger zu erlauben, sich eher passend gegen die Gruppe zu richten. Es ist wichtig zu wissen, dass Intelligenz, Bildung, wirtschaftliche Verhältnisse und Beruf niemanden gegen Kulte immun machen, und dass es nicht Dummheit ist, welche die Leute verleitet. dort hinzugehen oder zu bleiben. Die Verschiedenheit der Mitglieder bei Heaven’s Gate war ein gutes Beispiel dafür und zeigte, wie es möglich war, eine große Verschiedenheit von gebildeten und ungebildeten Leuten zu manipulieren, ihr Leben zu opfern. Dies ist eine wichtige Dynamik, die in diesen Zeiten verstanden werden muss, in der wir uns auf das Problem terroristischer Angriffe einschließlich Selbstmordattentäter gefasst machen müssen – wo es produktiv sein kann, die Gruppenbindung, die Manipulation der Gefühle, den Verlust der Individualität, das Gefühl, anderen überlegen zu sein, sein Leben einem höheren Zweck zu opfern, die Gelegenheit, für ein höheres Gut einzutreten und den Eintritt in ein vollkommenes Leben nach dem Tod zu erlangen, zu verstehen, um zu begreifen, wie Terroristen rekrutiert und dazu gebracht werden, grausame Taten zu begehen.

Ich habe über das Problem von Familien gesprochen, die ungerecht wegen einer Kultverstrickung beschuldigt wurden, aber ein anderes Problem kann für Familien das gerade Gegenteil sein – nämlich Faktoren der individuellen mentalen Gesundheit und Familienprobleme zu verleugnen, die auftreten und die Rekrutierung einer Person, die Länge des Aufenthalts in der Gruppe, das Ausmaß der Verwicklung und die Schwierigkeiten beim Austritt beeinflusst haben können. Das ist schwierig zu erklären und ich denke, es ist wichtig zu betrachten, was ich hier im Zusammenhang mit der unfairen Beschuldigung sage, über die ich vorher gesprochen habe. Aber ich möchte es ganz klar sagen – die Familienprobleme nicht zu beachten ist ebenso ein Fehler. Wenn Familien mich um Hilfe bitten, dann benütze ich meine Fähigkeiten als Psychotherapeutin und Psychologin, um Familienprobleme abzuschätzen, welche die Kultverwicklung komplizierter machen und die Fähigkeit der Person, die Gruppe zu verlassen, beeinträchtigen könnten. Kulte beeinflussen eine große Vielfalt von Familien mit verschiedenen Stärken und Schwächen, und ich glaube, es ist wichtig , jedes Individuum in einem Kult und seine Familienmitglieder von Fall zu Fall anzusehen und Familienprobleme ehrlich zu benennen, wenn es welche gibt, innerhalb eines unterstützenden Zusammenhangs, den ich innerhalb eines psychotherapeutischen Zusammenhangs bieten kann, den aber andere auf andere Weise bieten können, ohne Familien zum Sündenbock zu machen oder sie dafür zu beschämen, dass sie auf eigene Faust das Problem herbeigeführt hätten.

Bitte erlauben Sie mir, Ihnen einige Beispiele von Störungsgebieten innerhalb von Familien zu nennen, um Familien zu helfen, mit dem Kultproblem fertig zu werden. Ein häufiges Problem ist, dass Familien sich nicht immer einig sind, was zu tun ist, ob überhaupt etwas zu tun ist oder wie betroffen sie sein sollen. Ist die fragliche Gruppe wirklich ein Kult? Einige Gruppen sind nicht sehr bekannt und es ist schwierig, das festzustellen. Manchmal ist die Gruppe ein Kult, aber das Familienmitglied ist nur begrenzt oder am Rande involviert und dies bedeutet nicht wirklich eine volle kultische Verstrickung. Diese Art von Personen würde eine andere Art von Intervention und Ausstiegsstrategie benötigen als Mitglieder, die ihr ganzes Leben dem Kult geweiht haben und mit der Gruppe leben, all ihr Geld der Gruppe spenden, den Kultführer verehren, sich über alle außerhalb der Gruppe erhaben fühlen usw. Manchmal steht die Gruppe irgendwie unter hohem Druck, ist zwar kein wirklicher Kult, aber die involvierte Person ist besessen von ihrer Zugehörigkeit und hat so eine kultartige Beziehung zu einer Gruppe entwickelt, die typischerweise solche Hingabe und Anhänglichkeit nicht erfordert, und diese Art von Person würde bei der Planung von Interventionen eine besondere Sorgfalt erfordern und wäre außerdem vielleicht dafür empfänglicher als andere, kurz nach dem Austritt sich einer anderen Gruppe mit hohen Ansprüchen anzuschließen. Es kann für Familienmitglieder sehr hilfreich sein, einen außen stehenden Berater zu haben, wie zum Beispiel einen Psychotherapeuten, einen Ausstiegsberater oder Gedankenreformberater, der auf diesem Gebiet Erfahrung hat, ihnen zuhört und mehr objektives Feedback anbietet, indem er das Problem beurteilt und verschiedene mögliche Interventionen überlegt.

Es gibt eine Menge anderer Konflikte und Eheprobleme, welche die Chancen für eine erfolgreiche Intervention vermindern könnten. Ich arbeite mit einer Familie, in der die Eltern geschieden sind und, so kann man sagen, einander hassen. Bisher gelang es mir nicht, die Eltern zu einer Beratungssitzung zusammen zu bringen und einen gemeinsamen Plan zu erstellen. Daher arbeite ich zur Zeit mit einem Elternteil und wir sind dadurch beschränkt, dass wir nicht auf den anderen Teil zählen können, um zu kommunizieren und in einer Weise zu intervenieren, die irgendwelche Pläne der Kommunikation und Intervention unterstützte, die wir ausdenken könnten, um dem Kind beim Ausstieg aus dem Kult zu helfen. In einem anderen Fall war es mir möglich, die Kommunikation zwischen Eltern und Großeltern zu erleichtern, die bisher über die Frage der Hilfe für ihr Familienmitglied zum Verlassen einer missbrauchenden religiös orientierten Zweierbeziehung zerstritten waren. Die beiden Generationen sprachen wegen einiger seit langem bestehender Ressentiments und Missverständnisse vor der Intervention kaum miteinander, und die gemeinsame Erfahrung der Betroffenheit über das Familienmitglied half unglücklicherweise nicht, diese tief sitzenden Familienwunden zu heilen. Aber die Familie war in der Lage, zusammen zu kommen, unterstützende Maßnamen zu ergreifen und mit dem Familienmitglied zu intervenieren, das schließlich die kultische Beziehung beendete. Das war eine sehr einzigartige Beratungsintervention mit vielen dichten Momenten und Herausforderungen für mich. Bis heute kämpfen die beiden Generationen darum, überhaupt irgendeine Art von freundschaftlicher Beziehung zu haben, und das Enkelkind; das den Kult verließ, teilt gewöhnlich seine Ferien so auf, dass es mit jeder der Familien getrennt beisammen sein kann.

Ein anderes Bespiel von einschlägigen Familienproblemen wäre, dass ein Elternteil den anderen wegen der Kultzugehörigkeit des Kindes beschuldigt. Intensive Gefühle von Ärger des einen Gatten gegenüber dem anderen würden dazu neigen, jede gemeinsame Intervention mit dem Kind zu verhindern. Ein anderes Problem bestünde darin, wenn die Eltern sich vor jeder Art von Konfrontation sehr fürchteten, aus Angst, den Kontakt mit dem Kultmitglied für immer zu verlieren, oder wenn ein Elternteil Gefühle in dieser Richtung hat, während der andere Teil allzu eifrig ist, eine kräftige Konfrontation herbei zu führen, die zurückschlagen könnte. Ein fruchtbarer Versuch wäre es, die Familienmitglieder oder andere betroffene Leute zu versammeln, die dem Kultmitglied nahe stehen, bevor man eine Intervention ausführt, um der Person zu helfen, die Gruppe oder die kultähnliche Beziehung zu verlassen. Wie bei jeder Art von Intervention ist es sehr hilfreich, der Familie zu helfen, die Risken verschiedener Aktionen gegenüber dem Risiko, überhaupt nichts zu tun, abzuschätzen. So wird die Familie, die aus Angst, jede Konfrontation könnte zu einer völligen Entfremdung des Familienmitglieds führen, nichts unternimmt, sogar ein größeres Risiko auf sich nehmen, wenn sie nicht tut, weil das Verhalten des Kultmitgliedes zunehmend gestört und gefährlich werden könnte. Ich muss zugeben, dass ich viele Familien unterstützen musste, die Kummer hatten, weil sie zu lange mit der Intervention gewartet hatten, in der Hoffnung, es sei nur eine vorübergehende Phase, oder darauf gewartet hatten, etwas über die Gruppe zu erfahren.

Manche Familien machen den Fehler, dass sie zu schnell handeln wollen oder dass sie glauben, sie bräuchten nur etwas Magisches sagen und die Person würde „herausschnappen“. Manche Familienmitglieder sind davon besessen, jedes Wort zu beachten und voll Angst zu sein, eine einzige Gelegenheit zu versäumen. Wie es Fürsorgern allgemein empfohlen wird, ein Gleichgewicht zwischen der Fürsorge für andere und für sich selbst herzustellen, so ist es auch für Familien wichtig, ein Gleichgewicht bezüglich der Ressourcen herzustellen, die sie der Hilfe für ihr Familienmitglied widmen, einen Kult zu verlassen, und Zeit, Energie und Geld für andere Zwecke zu finden. So seltsam es auch klingen mag, es gibt Zeiten, in denen es für die Familie wichtig ist, eine Pause zu machen und vielleicht zu versuchen, irgendwo einen friedlichen Urlaub zu machen oder andere Aktivitäten zu unternehmen, die ihre eigenen Kräfte, ihre Spiritualität oder die Beziehungen zu anderen Leuten erneuern könnten. Ein anderes Problem besteht darin, ein Gleichgewicht bezüglich der Bedürfnisse anderer Geschwister herzustellen, die vielleicht normale Entwicklungsprobleme haben und die es übel nehmen könnten, dass die Eltern Aufmerksamkeit und Ressource dem einen Kind widmen, welches das ungewöhnliche Problem hat, in einem Kult zu sein.

Leute verlassen kultische Gruppen auf viele verschiedene Arten. Manche gehen einfach ohne jede Intervention hinaus. Manche verlassen eine Gruppe sehr schrittweise. Manche scheinen einfach hinaus zu „schnappen“. Wir wissen aus unserer Arbeit mit Leuten, die Gruppen verlassen haben, dass es sehr verbreitet ist, dass diese Leute immer einige Zweifel haben, auch wenn sie noch in der Gruppe sind. Die Kulte sind sich dessen bewusst und lehren ihre Mitgliedern oft, Techniken zu praktizieren, wenn Zweifel sie befallen. Dies mögen Techniken der Bewusstseins-Betäubung sein wie Chanten oder Bekennen und sich dabei zu schämen. Wenn die Kulte Techniken der Bewusstseins-Betäubung benützen, dann ist es für die Familienmitglieder wichtig, Techniken der „Bewusstseins-Öffnung“ zu benützen, indem sie auf eine Weise kommunizieren, die den Personen helfen, ihre kritischen Fähigkeiten wieder herzustellen und unabhängiges Denken und Beurteilen zu entwickeln. Es kann sehr hilfreich sein, die Leute an Erfahrungen aus ihrem früheren Leben zu erinnern, die sie deshalb vermissen, weil die Verwicklung in die Gruppe frühere Beziehungen, Interessen und die Verfolgung von Karrieren usw. nicht gestattet. Fotos können hilfreich sein. Zu viele Fotos können jedoch zu offensichtlich oder überwältigend sein. Der zeitliche Ablauf von Gesprächen mit Familienmitgliedern ist wichtig, und es ist für sie hilfreich, dafür Anleitungen zu erhalten, weil ihre eigene Ungeduld, ihre Befürchtungen oder ihre Zurückhaltung mit wirkungsvollen Interventionen in Konflikt geraten könnten. Es ist aber anzunehmen, dass ohne Rücksicht darauf, wie starrköpfig der Kultanhänger erscheinen möge, es Momente geben wird, in denen die Person Zweifel empfindet, und wenn diese in einer unterstützenden Weise benützt werden können, dann könnten diese Zweifel wachsen und zu einer Ausstiegsstrategie werden.

Es ist wichtig, individuelle Probleme abzuschätzen, die vor der Zugehörigkeit zum Kult bestanden hatten und oder durch ihn gesteigert wurden und die die Verwicklung in den Kult oder den Prozess des Ausstiegs beeinflussen könnten. Dazu könnten vorher bestehende Probleme der mentalen Gesundheit sein, die gewöhnlich weniger ernster Natur sind als voll entwickelte psychologische Störungen, wie Ängste und Depressionen. Manche Leute werden, während sie in der Gruppe sind, wegen des auf sie ausgeübten Drucks einen psychotischen Zusammenbruch erleben, und manche Leute werden zu einer Zeit einem Kult beigetreten sein, in der sie ohnehin daran waren, einen psychotischen Zusammenbruch zu erleben. Es gibt daher schwierige Fragen bezüglich der Diagnose und die Leute werden bezüglich der mentalen Gesundheitsberatung und Psychotherapie verschiedene Bedürfnisse haben, wenn sie die Gruppe verlassen. Drogenabhängigkeit mag auch ein Faktor sein, und einige Gruppenmitglieder werden unter physischem, emotionellem, sexuellem und auch finanziellem und spirituellem Missbrauch gelitten haben.

Familienmitglieder mögen meinen, ihre Probleme seien vorüber, wenn der Kultangehörige die Gruppe verlassen hat, aber wie ich eben erwähnt habe, mag es auch zu dieser Zeit für Familien wichtige Probleme geben. Ehemalige Kultanhänger erleben oft Verzweiflung, Angst, Phobien, Scham, Schuldgefühle (zum Beispiel weil sie andere für den Kult rekrutiert oder weil sie wichtige Familienereignisse, auch Begräbnisse, versäumt haben), Zorn, Kummer und andere schwierige und intensive Gefühle. Sie mögen sich schwierigen Identitätsfragen gegenüber sehen, und ihr normaler Entwicklungsweg mag verzögert sein, da frühere Ausbildung, Karrieren und zwischenpersönliche Beziehungen sehr wahrscheinlich unterbrochen wurden. Es gibt viele gewöhnliche Probleme zu lösen, wenn eine Person eine Gruppe verlässt, wie zu verstehen zu versuchen, was ihr zugestoßen ist, was sie aus ihrer Erfahrung gewinnen kann und wie man zukünftige Verwicklungen in Kulte vermeiden kann.

Ehemalige Kultmitglieder kehren nicht notwendiger Weise zu ihrer früheren Persönlichkeit zurück, und das Feingefühl der Familienmitglieder dafür und die Akzeptanz des individuellen Weges der Wiedereingliederung der Person in ihr früheres Leben kann durch das Ansetzen realistischer Erwartungen verbessert werden. Ehemalige Mitglieder sind ihren Familien nicht immer dankbar für Ausgaben, Zeit, Energie und andere Mittel, die sie zur Hilfe für ihren Ausstieg aufgewendet haben. Sie mögen kalt und indifferent erscheinen, während sie im Grunde verwirrt sind. Es ist weit verbreitet, nach einer Kulterfahrung Bewusstseinsspaltungen in Gedanken und Gefühle zu erleben, und Psychotherapie kann bei diesen Problemen helfen.

Für Familienmitglieder ist es wichtig zu verstehen, dass die Person aus ihrer Kultverstrickung möglicherweise positive Erfahrungen und Einsichten gewonnen hat, und um Gelegenheit zum Ausdruck dieser Gefühle zu geben, ermutige ich zu Offenheit seitens der Familien, die volle Erfahrung des Familienmitglieds anzuhören. Es ist ähnlich wie die Akzeptanz dessen, dass eine Person einem ehemaligen Gatten oder Partner gegenüber weiterhin positive Gefühle oder einige gute Erinnerungen an das haben kann, was sich als schlechte Beziehung oder Ehe herausstellte.

Es gibt einige gute Bücher und Artikel, die Vorschläge für Familienmitglieder enthalten, und ich bin glücklich, die folgenden empfehlen zu können:

 

Releasing the Bonds: Empowering People to Think for Themselves, von Steven Hassan.

 

Besonders hilfreich sind seine Abschnitte über zielgerichtete Kommunikation, Kommunikationsstrategien, und die Unterstützung von „freedom of mind“, der Name seiner Website. Ich bin Steven Hassan dankbar für die Erklärung des Vorhandenseins von kultinduzierten Phobien in Kultmitgliedern, bei denen die Gruppe der Person einschärft, dass ein Verlassen der Gruppe Tod, Wahnsinn oder andere schreckliche Folgen bedeutet. Es ist sehr hilfreich, dieses Phänomen bei der Planung von Interventionen zu verstehen, weil es uns verständlich macht, wie schwierig es sein kann, eine Gruppe zu verlassen. Dies widerspricht dem populären Denken, das missversteht, warum Leute in einer destruktiven Gruppe bleiben wollen und das persönliche statt in der Gruppe verankerte Faktoren dafür verantwortlich macht. Steven Hassan hat einen strategischen Interaktionsentwurf entwickelt, der zielgerichtet ist.

 

Coping with Cult Involvement: A Handbook for Families and Friends, von Livia Bardin.

 

Besonders hilfreich sind ihre Abschnitte über Kommunikation mit Kultmitgliedern, einschließlich des Sendens wichtiger Nachrichten, Benützung der privaten Sprache, Zuhören und Antworten, und Entwicklung eines strategischen Plans. Sie macht auch Vorschläge zur Hilfe für das Finden einer abgängigen Person, ein besonders tragischer Umstand, der manchmal bei Kulten vorkommt.

 

Family Interventions for Cult-Affected Loved Ones, von Carol Giambalvo.

 

Besonders hilfreich sind ihre Beschreibungen möglicher Szenarien, um den Interventionsplan dem Kultmitglied vorzustellen, wovor sich Familien oft sehr fürchten, und ihre Abschnitte darüber, was zu tun ist, wenn die Person sich nach der Intervention entschließt, zum Kult zurückzukehren. Zusätzlich fügt sie ethische Standards für Gedankenreformberater hinzu, denen viele Ausstiegsberater zugestimmt haben. Das ist wichtig, denn während lizenzierte und approbierte Fachleute für mentale Gesundheit normalerweise an einen ethischen Code gebunden sind, sollten dies Ausstiegsberater freiwillig tun, aber nicht alle tun es.

 

Ich möchte meine Ausführungen mit einem Kommentar zu einem anderen Modell der Psychotherapie schließen, das ich bei meiner Arbeit mit Familien als hilfreich befunden habe, und das ist ein Modell der Schadensverminderung, das von Psychologen für psychotherapeutische Arbeit mit Süchtigen entwickelt wurde. Dieses Modell wurde entwickelt, weil Klienten oft die Behandlung abbrechen würden, wenn ihnen gesagt wird, es gebe nur einen Weg, aus ihrer Abhängigkeit heraus zu kommen, und das sei totale Abstinenz. Zum Beispiel können sich einige Alkohol- und Drogenabhängige nicht mit dem Gedanken anfreunden, niemals mehr wieder einen Drink oder Joint zu haben. Sie könnten sich durch Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker entfremdet fühlen, die wahrscheinlich sagen, dies sei der einzige Weg. Ein Schadensverminderungsmodell versucht, der Person auf der Ebene ihrer Motivierung entgegen zu kommen, die Motivierung zu einer Verhaltensänderung auf lange Sicht zu verstärken, aber unmittelbar die schädlichen Folgen der Sucht zu vermindern. Zum Beispiel können Leute, die täglich trinken, dazu motiviert werden, nur an Wochenenden zu trinken, was es ihnen möglich macht, einen Job zu behalten, oder Leute, die trinken und fahren, könnten zumindest zur Änderung in der Lage sein, nach dem Trinken nicht zu fahren, eine Änderung, die sowohl ihr eigenes Leben als auch das anderer retten könnte. Ich glaube, dass dieses Modell darauf angewendet werden kann, Kultmitgliedern und ihren Familien zu helfen. Wenn es zum Beispiel nicht gelingt, die Person zum völligen Austritt aus der Gruppe zu bewegen, dann könnte man vielleicht in der Lage sein, den verursachten Schaden zu minimieren, indem man kreativ auf einige Verhaltensänderungen hinarbeitet. Dies könnte drin bestehen, die Kommunikation mit dem Kultmitglied aufrecht zu erhalten, ihm vielleicht zur Teilnahme an normalen Familienaktivitäten verhelfen, während es noch im Kult ist, auszuforschen, ob es fähig wäre, seine Ausbildung oder Karriere fortzusetzen, und andere solche Maßnahmen. Es könnte darin bestehen, der Person zu helfen, sich des physischen Missbrauchs von Kindern zu enthalten, wenn es dazu von der Gruppe ermutigt wird, ohne dabei andere Glaubensvorstellungen des Kults in Frage zu stellen.

Wirkungsvolle Interventionen mit Kultmitgliedern erfordern eine Menge Aufmerksamkeit, Überlegung, Bildung und Beratung. Familien, die ein Mitglied in einem Kult oder in einer anderen stark manipulativen Beziehung oder Gruppe haben, sind vielen schmerzlichen Gefühlen ausgesetzt und sind bei vielen davon allein.

Nochmals danke, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, Ihnen heute einige meiner Gedanken bezüglich Familienproblemen mitzuteilen. Bitte um Ihre Fragen und Kommentare.

[1] Re-Entry Therapy, Information & Referral Network